Eine Karte wird gezeichnet

Ein Beitrag von Erika Burls (ehemals Lehrerin an der Hibernia-Schule)

Zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahr haben unsere Kinder eine wichtige Schwelle zu überschreiten; sie gewinnen ein ganz neues Verhältnis zu ihrer Umwelt. Eine wunderbare Geborgenheit und Nähe zu allem, was um das Kind herum geschah, geht verloren; damit zugleich die Kraft, aus dem unmittelbaren Mitleben, aus der Nachahmung, zu lernen. Ein Neues, das sich in den vorausgehenden Schuljahren schon angekündigt hat, tritt an die Stelle; unsere Kinder können jetzt mit innerer Ruhe wahrnehmen, sich ein Bild von dem machen, was sie erleben. Dazu braucht man «Abstand», und diesen Abstand von der Umwelt und ihren Ereignissen gewinnen jetzt unsere Kinder. Doch muss ihnen dabei, wie bei allen Entwicklungsschritten, geholfen werden.

Eine bedeutende Hilfe bei diesem Vorgang des Abstandnehmens wird den Kindern gegeben im Kartenzeichnen. Sie können nun behutsam so geführt werden, dass sie von der erlebten Landschaft - in der sie selbst ja noch ganz drinnen stehen - zum Kartenbild kommen.

Es muss dies selbstverständlich gründlich vorbereitet werden. Vom Nächstliegenden, Bekannten sind wir dabei ausgegangen, indem zuerst ein Lageplan vom Klassenzimmer gezeichnet wurde. Wir mussten uns vorstellen, nicht mehr darin, sondern in einiger Entfernung darüber zu stehen, von oben darauf herunter zu schauen. Bevor das Zeichnen des Planes begann, wurde vieles mit Fuß- sowohl wie mit Schrittlängen abgemessen, die Länge im Verhältnis zur Breite angeschaut und die gewonnenen Maße verglichen.

Wir erhoben uns dann zu einem noch höheren Blickpunkt; die Kinder wussten sofort: Da können wir natürlich mehr übersehen! -und es wurde ein Plan vom ganzen Schulgebäude und Schulgelände gezeichnet. Diese Zeichnungen entstanden unter klarer Berücksichtigung der Himmelsrichtungen, die den Kindern schon in einer vorangegangenen Heimatkundeepoche zum Erleben gebracht worden waren. Im Betrachten des Tageslaufes nämlich erkannten sie die Gegend des Sonnenaufganges zunächst als «Morgen», die des Unterganges als «Abend»; ebenso wurden Mittag und Mitternacht in Beziehung zum Sonnenstand gesehen. Die Kinder bekamen damit einen lebensnahen Zusammenhang mit dem ganzen Raum und seinen Richtungen.

Beim Zeichnen des Schulgeländes kam auch der «Maßstab» zur Sprache: dass nicht nur für solche Zeichnungen der richtige Maßstab gebraucht wird, sondern dass es auch im Leben jedes einzelnen Menschen wichtig ist, für sich den rechten, nämlich einen hohen Maßstab zu finden und anzulegen für seine eigenen Taten, Gedanken und Empfindungen.

Damit die Kinder das Überschauen und das Loslösen von der natürlichen Landschaft für das Kartenzeichnen persönlich erleben konnten, haben wir in dieser Epoche einen Ausflug gemacht. Wir haben dafür eine Gegend ausgewählt, in der man von der Höhe eines Berges in ein Flusstal schauen kann. Das haben wir auch mit großer Freude getan; wir entdeckten, dass unser Waldweg ein ganzes Stück den sich schlängelnden Flusslauf begleitete, und so konnten wir das vorher Gesehene selbst erwandern. Davon wurde am nächsten Tag gemeinsam auch eine Art Plan gezeichnet; nun bemerkten manche Kinder schon: Das sieht ja fast aus wie eine Karte!

Und bald danach wagten wir uns wirklich an die erste Kartenzeichnung - zunächst des kleineren Gebietes zwischen Lippe und Ruhr -, dann aber des größeren zwischen Lippe-Ruhr-Wupper-Sieg und im Westen bis zum Rhein, also eines großen Teiles von Nordrhein-Westfalen, nachdem es von vielen verschiedenen Gesichtspunkten vorher eingehend besprochen worden war.

Damit hat man einen dritten, wichtigen Punkt in diesem Fach erreicht, nämlich, dass das Erlebte und das Bild sich zu einem Zeichen verdichten und damit zu einer «Schrift» werden, die man dann auch wieder lesen kann. Es ist im Grunde ein gleicher Weg, wie er schon mit den Schulanfängern gegangen wird beim Erlernen der Buchstaben, die auch durch Erzählung und Bild dem Gemüt des Kindes nahegebracht werden.
So kann man in großen Zügen den Gang sehen, der mit den Kindern unternommen werden muß, um sie allmählich zu der notwendigen Fähigkeit der Abstraktion zu bringen, einer Abstraktion aber, die nicht den Boden unter den Füßen verliert, sondern den Bezug zur Wirklichkeit und zum eigenen Gefühl und Erleben noch in sich hat. –

Mit dieser sehr zusammengedrängten Schilderung möge deutlich geworden sein, dass es uns auf drei erzieherisch wichtige Gesichtspunkte bei diesem Unterrichtsfach ankommt:

  1. Abstand und Übersicht zu gewinnen,
  2. Maße zu finden
  3. Die Zeichensprache selbst zu formen und als eine Schrift zu verstehen.

In der fünften Klasse gehen wir von der Heimatkunde zur Erdkunde über; diese sprengt den Rahmen dessen, was wir vorher selbst abschreiten, ausmessen und erwandern konnten. Wir müssen uns Gefährten suchen, die «stellvertretend» für uns die Länder durchwandern: es sind die Flüsse. Den Wegen der Flüsse folgend, überbrücken wir die Spannweite des Gefälles zwischen Meeren und Gebirgen. So kommen wir zum dynamischen Kartenzeichnen. Wie von einem lebendig pulsierenden Adernetz wird ein Land von seinen Flüssen durchzogen, an denen Ufern das menschliche Leben und Treiben sich abspielt, bunt und mannigfaltig, ernst und schön.

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