Das Steinbildhauen

Ein Beitrag von Daniel Velásquez (Lehrer an der Tübinger Freien Waldorfschule)

Das Steinbildhauen, meistens auch einfach Steinhauen genannt, ist eine von mehreren künstlerisch-handwerklichen Fächern, die unsere Schüler in ihrer Schulzeit kennenlernen. Für manche von ihnen stellt das Steinhauen den Höhepunkt und Abschluss der gestalterischen Fächer am Ende der Oberstufe dar, da kein anderes Material den Jugendlichen in seinen Form- und Gestaltungskräften so stark herausfordert wie der Naturstein. Manchmal kann darüber hinaus ein Gefühl von Ehrfurcht vor der Intensität der Arbeit an diesem besonders dichtem und harten Material bei ihnen entstehen.

Es soll nun der Versuch unternommen werden, dieses Fach kurz zu beschreiben. Nebenbei gesagt, ist das Steinhauen ein relativ neues Fach in der Waldorfschulbewegung, welches nicht im ursprünglichen Fächerkanon angelegt worden ist. Es wurde erst später in die Oberstufe wahrscheinlich in den frühen 1970ern übernommen. In Tübingen gibt es dieses Fach erst seit Anfang der 1990er und mit den gut geeigneten Räumen der ehemaligen Cafeteria erst seit 2006/07.

Die Arbeit mit Stein bedeutet für die meisten Schüler eine neue Materialerfahrung und auch eine neue Handwerkstechnik. Sie haben in der Oberstufe das Schneidern, das Holzwerken, das Kupfertreiben und das Plastizieren mit Ton kennen gelernt und eventuell aus Speckstein kleinere Arbeiten anfertigen können. Inzwischen dürfen wir Speckstein aber nicht mehr in den Werkstätten wegen der besonders hohen Staubbelastung verwenden. Das Plastizieren ist naürlich eine additive Arbeitstechnik und somit qualitativ etwas anderes als die subtraktive Steinbearbeitung. Hier wird ausschliesslich Material abgetragen und auf diese Art und Weise gestaltet.

Wie am Anfang jeder handwerklichen Epoche, werden die Schüler auch hier in Materialkunde und Werkzeugtechnik eingeführt. Ebenso werden künstlerische Gesetzmässigkeiten wieder aufgefrischt, und verschiedene Ansätze in der modernen Bildhauerei anhand relativ bekannter Künstler wie z.B. Brancusi, Rodin, Chillida, Noguchi, Hepworth, Moore u.a. betrachtet und besprochen. Dann erfolgt die Themenstellung bzw. -findung, die entweder figürlich oder abstrakt jeder Schüler für sich im Laufe der Epoche erarbeiten und individuell umsetzen soll. Alleine diese Wahlmöglichkeit aus der in der Oberstufe behandelten plastischen Formenwelt stellt eine große Herausforderung für die meisten Schüler dar.

Der nächste Schritt ist die gemeinsame Auswahl des passenden Steines. Uns stehen z.Zt. Kalkstein, kirstalliner Marmor, Alabaster und Travertin zur Verfügung. Sandstein verwenden wir im Innenbereich ebenfalls nicht mehr, obwohl er heimisch ist, da er Silikatverbindungen enthält die ebenfalls schädlich sein können. Bei der Auswahl steht jeder Einzelne vor der Aufgabe, ein seinen gestalterischen Vorstellungen entsprechendes Material zu finden. Er kann zwischen verschiedenen Härtegraden und Qualitäten entscheiden. Die Farbe des Steines ist hier aber zweitrangig. Sobald es das Wetter zulässt arbeiten wir draussen. Eine Werkepoche dauert zur Zeit ca. 12-15 Wochen, d.h. fast ein halbes Schuljahr. Das ist gemessen an dem Widerstand des harten und spröden Materials nicht sehr lange, und es gibt immer wieder Schüler/innen, die entweder zusätzlich arbeiten, oder aber mit ihrem Stein nur teilweise "fertig" werden können.

Sind alle äußeren Bedingungen erfüllt, sind die Schüler/innen in der Regel meistens sehr schnell von „ihrem Stein" fasziniert. Es bedarf allerdings stetiger Arbeit, manuellem Geschick und innerer Konzentration um den großen Widerstand, den das harte Matterial bietet, in den Griff zu bekommen. Auf diese Weise kann es für den Jugendlichen ein bleibendes Erlebnis werden: „Hey, das kann ich ja auch! Da kommt dabei etwas Schönes heraus, etwas Einzigartiges."

Im Idealfall können diese positiven Erfahrungen noch lange nach dem sog. Künstlerischen Abschluss er 12.Klassen, der mit Eurythmie, Malerei und Architektur jedes Jahr in Tübingen Anfang Juli stattfindet, als eine Art krönender Abschluss der Waldorflschulzeit erlebt werden und mit etwas bleibenden, dauerhaften verbunden werden. Die individuelle Steinskulptur existiert schließlich noch lange nach dem Schulabschluss weiter und verkörpert somit etwas zeitloses, wertvolles und schönes.

D. Velásquez

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