Sprachenlernen in Epochenform

Ein Beitrag von Ulrike Sievers (Englisch- und Biologielehrerin an der Christian- Morgenstern-Schule in Hamburg)

Epochenunterricht ist ein besonderes Merkmal der Waldorfpädagogik. Gleichzeitig wird darüber diskutiert, inwieweit sich dieses Prinzip, über den klassischen Hauptunterricht hinaus, auf andere Fächer übertragen lasse. An der Freien Waldorfschule Elmshorn hat die Autorin den Wechsel von drei regelmäßigen Englischstunden zu drei dreiwöchigen Epochen in der Oberstufe mitgestaltet. An ihrer jetzigen Schule, der Christian-Morgenstern- Schule in Hamburg, gehören abwechselnde Epochen in Spanisch und Englisch von Anfang an zum Konzept.

 

Konzepte hinterfragen und überdenken

Es waren vor allem zwei Aspekte, die uns damals in der Oberstufenkonferenz motiviert haben, über eine Umgestaltung tradierter Gewohnheiten nachzudenken. Als Fremdsprachlehrerin unterrichtete ich in fünf Klassen parallel – zum Teil in ganzen, zum Teil in geteilten Klassen. Das bedeutete ein tägliches Wechselbad: nach der 5. in die 10. Klasse, dann in die 12. und danach zweimal eine halbe 8. Am nächsten Tag stand die 9. Klasse auf dem Plan. Es galt, immer den richtigen Ton, stimmige Bilder, die passende Ansprache zu finden – von der Vorbereitung fünf verschiedener Themen ganz zu schweigen. Die Beobachtung, dass meist ein oder zwei Klassen mitliefen, während meine Hauptkonzentration gerade bei den anderen weilte, stimmte mich unzufrieden, war ich doch von der Bedeutung der eigenen Vorbereitung für qualitativen Unterricht überzeugt. Ich fühlte mich ruhelos bis gehetzt und beneidete die Kollegen, die im Hauptunterricht mit Ruhe und Muße in ein Thema eintauchen konnten.

Wir wissen, wie wichtig es für den Ablauf des Unterrichts ist, dass sich eine Beziehung zwischen der Lehrkraft und den Kindern und Jugendlichen aufbauen kann. Ich hatte das Gefühl, dass drei Begegnungen pro Woche – abzüglich all der Ausfälle wegen Klassenfahrten, Theaterprojekten und Praktika – nicht die Verbindlichkeit schufen, die einige Jugendliche gebraucht hätten, um den Sprachunterricht ernst zu nehmen.

Darüber hinaus machte ich die Erfahrung, dass gerade in der Oberstufe bei 40- bis 45-Minuten-Stunden oft nur 35 Minuten übrigblieben – sehr wenig, um eine Arbeitsatmosphäre aufzubauen, intensiv in eine andere Sprache einzutauchen und anspruchsvolle Aufgaben zu bewältigen. Der aus der Unter- und Mittelstufe vertraute, kurzschrittige Phasenwechsel erschien mir in der Oberstufe nicht mehr angemessen. Mit dem Ziel, über die genannten Aspekte hinaus den Schülerinnen und Schülern statt eines schnellen Stundenwechsels mehr Kontinuität und genügend Raum zu bieten, um sich auf ein Thema zu konzentrieren und länger bei der Sache zu bleiben, setzten wir uns daran, den Stundenplan der Klassen 9 bis 12 umzugestalten.

Letztendlich entstanden zwei aufeinander folgende Hauptunterrichte, in denen nun auch Englisch und einige andere Fächer und Projekte einen Platz fanden. Für den Englischunterricht hatte sich damit Grundlegendes verändert!

 

Zeitungen als Forschungsobjekte

Das Schuljahr beginnt für mich mit einer Epoche in der 11. Klasse. Wir nehmen englischsprachige Nachrichtenmedien unter die Lupe, vergleichen dabei das Layout verschiedener Zeitungen und analysieren dann den typischen Aufbau eines Artikels. Die Ergebnisse unserer »phänomenologischen Forschung am Objekt« bilden die Grundlage für eine Gruppenarbeit, in der die Jugendlichen im Unterricht ihre eigenen englischsprachigen Zeitungen erstellen. Nebenbei lernen wir Vieles über den Umgang mit Neuigkeiten und Meldungen. Beim Artikelschreiben erscheint den Jugendlichen ein bewusster Blick auf die Regeln der indirekten Rede als sinnvoll und hilfreich, kann das grammatikalische Wissen doch gleich umgesetzt und angewandt werden.

Die 9. Klasse arbeitet drei Wochen lang mit einem Buch, in dem es um die Auseinandersetzung japanischer Kinder mit der Zeit des Nationalsozialismus geht. Die Geschichte der 11-jährigen Hannah gibt einen Einblick in das Schicksal jüdischer Kinder in Theresienstadt und Auschwitz. Die Neuntklässler sind gebannt bei der Sache. Selbst diejenigen, denen sich der Text beim Lesen nicht sofort erschließt, sind durch die Thematik motiviert und tauchen mit Hilfe vielfältiger Aufgaben in die Geschichte ein. Dabei erfahren sie auch, wie die Japanerin Fumiko mit einer Gruppe von Kindern durch unermüdliche Kleinarbeit das Schicksal von Hannah Brady erforscht hat. In der zweiten Epoche werden die Jugendlichen dann in Gruppen wichtige Teile der Geschichte in ein Hörspiel umschreiben und selbstständig aufnehmen: ein Schritt auf dem Weg zur Medienkompetenz, die im Laufe der Oberstufenzeit durch die oben beschriebene Zeitungsepoche sowie eine weitere Englischepoche zur Sprache des Films ergänzt wird.

 

Drei Wochen lang jeden Tag eine Doppelstunde …

… das entspricht 30 einzelnen Unterrichtsstunden, also in etwa zehn Wochen Unterricht im herkömmlichen System. Aber mit einer einfachen Umrechnung ist es nicht getan. Epochenunterricht heißt für mich, drei Wochen intensiv einzutauchen in die andere Sprache, mit ausreichend Zeit an jedem Tag. Eine Epoche bietet den Raum, sich mit relevanten Themen angemessen auseinanderzusetzen; mit Themen, die den Jugendlichen nicht nur den englischsprachigen Kulturraum und dessen Geschichte näherbringen, sondern auch die persönliche Entwicklung fördern. Zudem erlauben Doppelstunden einen oberstufengemäßen Phasenwechsel, bei dem genügend Zeit bleibt, um miteinander in der anderen Sprache zu kommunizieren, denn Sprachenlernen hat ja vor allem auch mit Sprechen zu tun.

Epochen laden dazu ein, Schwerpunkte zu setzen. So werden zum Beispiel in der 10. Klasse drei Wochen lang die Regeln des englischen Debattierens geübt. Es gilt, stichhaltige Argumente zu recherchieren und unabhängig von der eigenen Meinung verschiedene Positionen zu vertreten. In einer anderen Epoche wird täglich eine Stunde ein selbstgewähltes Buch gelesen. Dieses extensive Leseprojekt fördert nicht nur das Selbstvertrauen der Schüler und Schüler*innen in Bezug auf literarische Ganzschriften, sondern trägt auch Erstaunliches zur individuellen Sprachentwicklung bei. Die Themen und Geschichten werden abschließend – durch ein Poster unterstützt – der Klasse präsentiert.

In anderen Epochen stehen das Drama und das Theater im Vordergrund, zum Beispiel Thornton Wilder in Klasse 10 oder Shakespeare in Klasse 11. Eine Doppelstunde bietet ausreichend Zeit, sich den Text nicht nur lesend, sondern auch durch das eigene szenische Spiel zu erschließen. Dabei ist es beeindruckend zu erleben, mit wie viel Begeisterung vor allem auch sprachlich Schwächere bei der Sache sind, wenn es darum geht, eine Szene aus einem Theaterstück an einen anderen Ort oder in eine andere Zeit zu versetzen oder in Eigenregie eine Shakespeare-Szene zu inszenieren.

 

Vom Fremdsprachenunterricht zum Unterricht in einer anderen Sprache

Eine grundlegende Wandlung geht vor: Aus dem Fremdsprachunterricht wird Unterricht in der anderen Sprache. Wir lernen nicht vorrangig etwas über die andere Sprache, sondern lernen in der anderen Sprache etwas über die Welt. Es entsteht eine Sprachumgebung, die die Jugendlichen zum Eintauchen einlädt, weil sie ihnen Themen anbietet, die interessant sind und mit ihnen selbst zu tun haben. Sie fühlen sich angesprochen und beteiligt, deshalb wollen sie Fragen stellen und sich äußern; sie haben Freude an den Projektarbeiten, auch wenn sie inhaltlich anspruchsvoll sind; und weil wir nebenbei auch an einem bewussten Umgang mit eigenen Fehlern arbeiten, eignen sie sich neue Wörter an und lernen, ungewohnte Strukturen anzuwenden. Gleichzeitig bietet dieser oft projektorientierte Unterricht einen wertvollen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung. Jugendliche lernen in heterogenen Gruppen und dürfen erleben, dass trotz unterschiedlicher Fähigkeiten jeder Einzelne seine eigenen Grenzen schrittweise erweitern kann.

Eltern (und Lehrkräfte), die dieses System noch nicht kennen, melden schon mal Zweifel an. Kann man so überhaupt Sprachen lernen? Fehlt da nicht die Kontinuität? Geht in den Wochen dazwischen nicht alles verloren, wenn die Klasse in einer anderen Sprache lebt? Sicherlich, die kurz vor einem Test noch schnell reingepaukten Vokabeln und auswendig gelernte Grammatikregeln werden die Zwischenzeit wohl nur schwer überdauern. Da ist ja manchmal schon ein Wochenende zu viel.

Aber, es geht uns nicht um kurzfristig abfragbares Wissen von Vokabeln und Grammatikregeln, von Wissen über die Sprache. Wir möchten, dass unsere Schüler eine andere Sprache kennen und lieben lernen; dass sie Selbstvertrauen und Mut entwickeln, um anderen Menschen zu begegnen, sich unbekannte Texte zu erschließen und in der anderen Sprache eigene Gedanken auszudrücken. Unser Ziel ist es, sie für die Sprache zu begeistern und anzuregen, auch zwischen den Epochen englische Bücher zu lesen und englische Filme anzusehen. Es geht um nachhaltiges Sprachenlernen, um das Aufnehmen und Einverleiben neuer Wörter und Strukturen, ein bisschen so, wie es beim Erwerb der ersten Sprache ganz automatisch geschieht. Zudem hat die Gehirnforschung gezeigt, dass zum Lernen in diesem Sinn – wie in anderen Fächern auch – die Pause und das Vergessen als wesentliche Phasen dazu gehören.

Nun bewegen wir uns mit unserer Waldorf-Oberstufe nicht im realitätsleeren (prüfungsleeren) Raum. Die besondere Sorge um den Erfolg vor allem des Englischunterrichts hängt in erster Linie mit dem Umstand zusammen, dass Englisch auf allen drei Abschluss-Ebenen eine zentrale Rolle spielt. Allerdings wird daraus vielfach der falsche Schluss gezogen. Anstatt auf Staatsschulmethoden zurückzugreifen und Lehrbücher einzuführen, sollten wir uns darauf konzentrieren, die waldorfpädagogische Lerntheorie besser zu verstehen und so deren Wert für ein sinnvolles, nachhaltiges und durchaus erfolgreiches Sprachenlernen zu erkennen. Der Blick über den Tellerrand auf neueste sprachdidaktische Erkenntnisse, kann uns hier nur bestätigen.

Bei allem geht es also auch darum, dass Kinder und Jugendliche die Chance erhalten, ihre Sprachkompetenz so gut zu entwickeln, wie es ihren individuellen Möglichkeiten entspricht. In Elmshorn müssen seit Jahren alle Schüler ihre Englischfähigkeiten nicht nur im Ersten und Mittleren Schulabschluss, sondern auch auf erhöhtem Anforderungsniveau im Abitur unter Beweis stellen. Dass sie dies auch erfolgreich tun, sehe ich als Bestätigung dafür, dass ein schülerorientierter, kreativer Sprachunterricht mit interessanten Themen nicht nur die Entwicklung der Jugendlichen fördern, sondern auch zu sehr guten Sprachkenntnissen führen kann. Entschleunigung durch intensiveres Eintauchen

Mein Leben als Fachlehrkraft ist ruhiger geworden. Auch ich darf mich einlassen, darf mich auf wenige Klassen gleichzeitig konzentrieren, zwischendurch auch mal loslassen und von vorne beginnen. Gerade in der turbulenten Mittelstufenzeit kann das etwas sehr Erfrischendes haben. Hier, wie in der Unterstufe, beschränken sich die Epochen auf eine Unterrichtsstunde am Tag, was fünf Stunden in der Woche oder 2,5 Deputatsstunden entspricht. Je nach Ferienterminen sind sie zwischen drei und fünf Wochen lang. Für die Kinder heißt das, dass sie sich nur auf eine Sprache auf einmal einzulassen brauchen – was gerade in den unteren Klassen für viele Kinder eine enorme Erleichterung ist. In der Mittelstufe sind Epochen ideal, um den Unterricht in Form von verschiedenen kleinen Projekten zu gestalten: extensive Leseprojekte, Geschichtenschreiben, eine Lektüre lesen oder ein Theaterstück einstudieren. Und nachdem wir uns vier Wochen intensiv mit den pubertierenden Siebtklässlern auseinandergesetzt haben, lassen wir los und überlassen unseren Kollegen das Feld.

 

Ulrike Sievers ist Englisch- und Biologielehrerin an der Christian-Morgenstern-Schule in Hamburg und in der Lehrerbildung tätig. Sie hat kürzlich ein Buch zum Fremdsprachenunterricht veröffentlich (Creative teaching, Sustainable learning) und ist für das online Fortbildungsangebot elewa – www.elearningwaldorf. de – verantwortlich, das auch Kurse für Fremdsprachenlehrkräfte anbietet.

(Dieser Artikel erschien ebenfalls in der Erziehungskunst im September 2018)

Ihr Kommentar