Die erste Lektüre – ein Buch

Ein Beitrag von Marcus Kraneburg (Freie Waldorfschule Freiburg St. Georgen)

Wie übt man als ganze Klasse das Lesen? Das ist gar nicht so einfach, weshalb es nicht selten nur punktuell oder unsystematisch stattfindet. Die Lesefähigkeiten der Kinder sind am Anfang der 3. Klasse noch dermaßen unterschiedlich, dass ein gemeinsames Lesen – wenn überhaupt – nur für sehr kurze Zeit im Hauptunterricht möglich ist: Einige Kinder brauchen fünf Sekunden, bis sie ein Wort lautiert haben, andere hingegen können annähernd flüssig lesen. Jedes gemeinsame Lesen wird da zu einer sozialen Übung in Reinkultur. Einige Schülerinnen und Schüler müssen sich extrem zügeln und andere sind völlig orientierungslos, weil sie einfach nicht so flink folgen können. Einen Übprozess durchlaufen – abgesehen vom Vorleser – nur die Kinder, die ein ähnliches Tempo haben. Das sind schätzungsweise 20 %. Die anderen 80 % lernen bezüglich des Lesens nichts: Viele gute Leser lesen leise voraus, langsame Leser wissen grundsätzlich nicht, wo man sich gerade im Text befindet.

Wie kann man trotzdem ein gemeinsames Leseerlebnis haben und ein ganzes Buch lesen? Ich wählte für meine 3. Klasse das Buch „Die Abenteuer des starken Wanja“ von Otfried Preußler aus. Ein unglaublich gutes Buch für den Einstieg: Es hat kurze Kapitel, so dass man an vielen Stellen aufhören und einsetzen kann. Es ist stimmungsvoll geschrieben – die Erzählung hat noch etwas Märchenhaftes an sich. Es enthält viel Wahres – Wanja muss sieben Jahre lang Kraft sammeln, um Großes in der Welt zu vollbringen.

Die Kinder durften sich in Zweier- oder Dreiergruppen zusammenfinden. Allerdings ging es dabei nicht darum, sich seine beste Freundin oder seinen besten Freund auszusuchen, sondern einen Partner zu finden, der ein einigermaßen gleiches Lesetempo hat. Auch das war ein Lernfeld. Täglich wurde kurz geschaut, ob kleine Änderungen bei der Gruppenbildung notwendig wurden.

Für etwa 20 Minuten verließen nun die Gruppen den Klassenraum und verteilten sich mit ihren Büchern auf den Gängen der Schule. Sie setzten sich auf eine Treppe, eine Mauernische oder die langen Schuhschränke an den Klassengarderoben. Nun lasen sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig vor. Je nach Lesefähigkeit wechselte der Leser nach einem Wort, einer Zeile, einem Satz oder einem Absatz. Ich konnte währenddessen von Gruppe zu Gruppe gehen und einen Augenblick verweilen. Nach der festgesetzten Zeit ließ ich unseren Klangstab in den Fluren erklingen und alle Kinder versammelten sich wieder in der Klasse. Einige durften nun sagen, bis zu welcher Seite sie gekommen waren. Ich setzte dann eine Zielseite, von der aus wir am nächsten Tag alle weiterlesen würden. Sie lag nur knapp über der schnellsten Lesegruppe. Als Hausaufgabe sollten die Kinder täglich nachmittags eine halbe Stunde lesen. Erreichten sie die Zielseite in dieser Zeit nicht, so hatte ich die Eltern zuvor gebeten, den Rest anstelle der allabendlichen Gutenachtgeschichte vorzulesen. Das durchkreuzte in wenigen Elternhäusern zwar die aktuelle Lektüre für die ganze Familie, aber das war zumindest in meiner Elternschaft für die 3 Wochen dieser Epoche kein unüberwindbares Hindernis.

So waren also alle Kinder am nächsten Tag über die Geschehnisse bis zur Zielseite im Bilde. Jetzt konnten wir mit dem Nacherzählen beginnen und anschließend mit dem Lesen in Gruppen fortfahren. Nur an wenigen Tagen lasen wir etwa 10 Minuten als ganze Klasse. Die Kinder mussten ja auch eine Wahrnehmung von den Lesegeschwindigkeiten der anderen haben, wenn sie sich einen Mitleser aussuchen sollten.

Auf diese Weise übten alle Kinder fleißig das Lesen – jeder seinem Vermögen entsprechend. Es entstand kein Frust über die eigene Langsamkeit und die schnellen Leserinnen und Leser konnten sich ganz dem Lesevergnügen hingeben. Und doch hatten wir das Gefühl, gemeinsam in der Geschichte zu leben.