Wie die Formen fliegen lernten
Ein Beitrag von Frau Le Monnier (Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Biberach)
Dem Formenzeichnen als Fach, das es nur an Waldorfschulen gibt, haftet ähnlich wie der Eurythmie, immer etwas Geheimnisvolles, Unverstandenes an. Selbst uns Lehrerinnen und Lehrern tut es von Zeit zu Zeit gut, sich den Wert dieser speziellen schulischen Übungen vor Augen zu führen, tragen sie ihre Früchte doch eher im Verborgenen und kommen schließlich dort zum Vorschein, wo man sie nicht unbedingt vermutet: In der Geometrie, in einer verbesserten Koordination (nicht nur von Augen-und Handbewegungen, sondern auch des gesamten Körpers) und schließlich im Vernetzen der beiden Hirnhemisphären und einem damit geradezu aufblühenden Vermögen komplexere räumliche Zusammenhänge zu erkennen![Die] „wache, aufmerksame Zuwendung zur Welt der Wahrnehmungsobjekte ist ein Garant dafür, dass sich Hirnsubstanz neu strukturiert und auch in ihrer qualitativen Funktion verändert“. (1) Diese „innerlich regsame Formauffassung in Wahrnehmung und Vorstellung“ (2) bildet die Kinder also durchaus ganzheitlich!
Nach einer längeren Schreibepoche, die Buchstaben werden in der 2. Klasse nun kleiner, empfanden die Kinder es als Wohltat, in großen Heften generöse Linien zu ziehen und sich an den immer bunter werdenden Bildern zu erfreuen. Draußen pfiff der Wind, drinnen wurde fleißig gezeichnet und Flächen in „Seidentuchmanier“, das heißt in zarter Farbigkeit, ausgestaltet. Draußen und drinnen... Obgleich die Kinder viel Freude an ihrem Tun empfanden, schweifte ihr Blick doch immer wieder zum Fenster, gefolgt von einem leisen Seufzer: „Ach könnte man gleichzeitig dort sein, wo der Herbstwind frech die Blätter an den Bäumen tanzen lässt“. So entstand die Idee, die Formen auf Papierdrachen zu übertragen, um sie mit nach draußen nehmen zu können. Gesagt, getan! Rechtzeitig zu den Herbstferien waren unsere schönen Drachen fertig geworden und die Hausaufgabe, die Drachen am Nachmittag in den Himmel steigen zu lassen, wurde von den Kindern freudig begrüßt. So fanden unsere Formen im Heft schließlich doch noch den Weg ins Freie!
Literaturhinweise:
- Christian Rittelmeyer, Pädagogische Anthropologie des Leibes. Biologische Voraussetzungen der Erziehung und Bildung, Weinheim, München 2002, S. 142
- Thomas Wildgruber, Malen und Zeichnen 1. bis 8 Schuljahr. Ein Handbuch, Stuttgart 2009, S. 70