Mehr als nur frische Luft

Ein Beitrag von Ester Brockhaus (Freie Waldorfschule Thale)

Waldtag der 1. Klasse

Montagmorgen. Die erste Klasse kommt mit Rucksäcken bepackt und festen Schuhen an den Füßen auf dem Schulhof an. Heute geht es nicht in den Klassenraum. Beim Klingeln versammeln wir uns am Glockenturm und stellen uns im Kreis auf. So können wir uns begrüßen und uns gegenseitig als Klasse wahrnehmen. Wer fehlt heute? Wie viele Kinder sind es dann, die heute in den Wald gehen? Der Weg in die Natur ist in Thale nicht weit. Schon nach zehn bis fünfzehn Minuten Fußmarsch tauchen wir ein in den morgendlich kühlen Wald. Ein Platz an der rauschenden Bode, eine hoch gelegene Waldwiese oder eine Stelle am plätschernden Steinbach sind im Wechsel unsere wöchentlichen Ziele. Wir gehen immer an dieselben Orte. Ein Jahr lang erleben wir hier die Natur im Wechsel der Jahreszeiten, bei Wind und Wetter, und beobachten, wie sie sich im wandelnden Spiel der Natur und sozialer Prozesse entfaltet.
 


Heute, nur wenige Wochen nach der Einschulung, sind wir im Steinbachtal. Nachdem wir das Frühstück auf unseren kleinen Isomatten sitzend eingenommen haben, knüpfen die Kinder scheinbar nahtlos an die Spiele der vergangenen Woche an. Am Bach wird gearbeitet: Staudämme werden aus Steinen, Ästen und Laub weitergebaut, ein steiler Hang wird erklommen und auf der schwarzen Erde heruntergerutscht. Die Schuhe werden ausgezogen und die Hosen hochgekrempelt. Das Wasser ist eiskalt. Zwei Kinder laufen nie barfuß. Als ihre Schuhe nass werden, entscheiden sie, dass es ohne Schuhe doch angenehmer ist. Nun überqueren auch sie barfuß über die größeren und kleineren Steine den Bach. Ich habe eine Klappsäge dabei. Einige Kinder haben am Ufer eine umgestürzte Hainbuche entdeckt und wollen sie absägen. Das Holz ist hart und die Kinder wechseln sich beim Sägen ab. Einige halten den Stamm fest. Eine halbe Stunde später ist es geschafft.
 


Nun werden Helfer:innen benötigt und organisiert. Gemeinsam tragen sie den langen Baumstamm zum Bach hinunter, denn er soll ihnen als Brücke dienen. Immer mehr Kinder kommen dazu und jetzt wird über den Stamm balanciert. Ein Kind hilft wie selbstverständlich einigen anderen, die unsicher sind, reicht ihnen die Hand oder einen langen Stock, mit dem sie sich abstützen können. Andere gehen mühelos über die Brücke. Die Kinder sind stolz und noch lange mit dem Balancieren beschäftigt.

Nächste Woche werden wir wieder auf die Waldwiese gehen. Hier haben die Kinder verschiedene Buden aus Ästen und Stöcken errichtet. Die Klasse teilt sich nach Freundschaften in Gruppen auf und die Buden werden verschönert und eingerichtet. Eine Bude ist besonders groß. Man kann auf ihrem Dach stehen. Es ist die Bude der Jungs. Letzte Woche wollten die Mädchen dort auch mitspielen. Da haben die Gruppen sich gemischt und alle rupften gemeinsam das lange trockene Gras von der Wiese, um damit das Dach abzudichten.
 


Als Lehrerin denke ich über den Waldtag nach. Wie die Kinder balanciere ich - gedanklich - und lote beobachtend aus, wo die Zusammenhänge sind von Bewegung und Lernen. Wofür brauchen wir einen Waldtag? Wer in seinem Körper gut beheimatet ist und sich in der Welt als einem Erfahrungsraum körperlich sicher zu bewegen gelernt hat, kann beginnen, seinen inneren gedanklichen Raum aufzuspannen und einzurichten. Wie in der äußeren Welt existieren hier räumliche Bedingungen. Es gibt ein Oben und Unten, Vorne und Hinten, Rechts und Links. Ich kann mich gedanklich darin bewegen, etwas ablegen oder wiederfinden, ordnen, strukturieren oder umverteilen. Kann mich orientieren. Kann innere Bilder malen und Vorstellungen bilden.
 


Im Übergang vom Kindergarten zur Schule beginnt für das Kind eine Zeit, in der es die Kultur der Distanz erlernt, die es benötigt, um seinen gedanklichen Raum auch unabhängig von der Außenwelt wahrzunehmen. Wer sich körperlich sicher und gleichzeitig beweglich zwischen Himmel und Erde gestellt hat und auch auf unebenem Gelände Gleichgewicht findet, ist in der Regel dazu bereit und kann für eine gewisse Zeitspanne seinen Körper ruhig halten und der inneren Bewegung nachgehen. Die Aufmerksamkeit kann nun immer länger, auch unabhängig vom individuellen Impuls, auf etwas gerichtet werden, denn anders als im Kindergarten ist der Schultag in Unterrichtseinheiten getaktet.

Der Unterricht in einer 1. Klasse, mit oder ohne Wald, braucht die Anbindung an die sinnlich erfahrbare Welt. Und in jedem Unterricht braucht es den Schritt von hier aus in den inneren gedanklichen Raum.

Im Wald aber tauchen wir mit allen Sinnen ein in die Schönheit unserer Welt. Hier pflegen wir unsere Liebe zu ihr und fühlen uns als Teil der Natur. Wir nehmen sie mit unseren Sinnen in uns auf. Dass die Empfindungen nicht immer angenehm sind, der Weg mal anstrengend ist, der Wind kalt bläst oder Reibereien im sozialen Miteinander entstehen, das sind die Momente, in denen wir lernen können, mit Frustrationen umzugehen.

Und wenn wir nach einem windigen kalten Waldtag ins warme Klassenzimmer zurückkommen und ein Bild vom Wald malen, ist es so still im Raum, dass wir ein Herbstblatt fallen hören.