Schreibschrift in Klasse 1?

Ein Beitrag von Marcus Kraneburg (Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Freiburg St. Georgen)

Es hat eine lange Tradition, in der 1. Klasse zunächst mit der Druckschrift zu beginnen – so auch in der Waldorfschule. Im Wesentlichen sprechen drei Gründe dafür:

  • Die Buchstaben der Druckschrift sind leichter zu schreiben. Sie sind hauptsächlich auf die Formen der „Geraden und der Krummen“ reduziert.
  • Man braucht, um ganze Wörter schreiben zu können, am Anfang nur die Großbuchstaben. Die Kleinbuchstaben kann man zu einem späteren Zeitpunkt einführen.
  • Mit der Druckschrift können die Kinder auch sogleich in ihrer Umgebung Geschriebenes lesen. Sie entdecken bekannte Wörter in Büchern, auf Produktverpackungen oder in der Werbung. Hier wird vor allem die Druckschrift benutzt.

Mit meiner jetzigen 1. Klasse habe ich jedoch mit der Schreibschrift begonnen. Es gibt gute Gründe für beide Wege. Es geht also nicht um „richtig“ oder „falsch“. Schlussendlich ist es eine individuelle Entscheidung des Lehrers, welche der Motive für ihn mehr Gewicht haben.

Folgende Gesichtspunkte haben mich bewogen, mit der Schreibschrift zu beginnen:

  • Die Schreibschrift ist künstlerischer und schöner.
  • Die Schreibschrift ist im Fluss. Wir beginnen die 1. Klasse in der Regel mit einer Formenzeichenepoche. Hier schulen wir die Bewegung, das Formgefühl, die Dynamik. Die Schreibschrift führt diese Fähigkeiten konsequent weiter. Sie schwingt von einem Buchstaben zum andern.
    Am kleinen „a“ der Schreibschrift soll kurz beschrieben werden, wie sich die Dynamik konkret darstellt: Das kleine „a“ nimmt Anlauf – arbeitet sich hinauf – fällt am oberen rechten Wendepunkt zurück – nimmt wie bei einem Looping Fahrt auf – nutzt den Schwung, um wiederum die Höhe des vorherigen Wendepunktes zu erreichen – fällt abermals hinunter und sammelt dadurch die Kraft, um in den nächsten Buchstaben zu schwingen.
    Dieses dynamische Auf und Ab ist besonders für die Erstklasskinder sehr befriedigend. Bewegung ist ihr Element. Die Schreibschrift holt sie meines Erachtens dort ab, wo sie zuhause sind. In Bezug auf die Dynamik gleicht die Druckschrift hingegen eher einem „stop and go“
  • Bei der Schreibschrift ist die Orientierung im Satzzusammenhang übersichtlicher. Alle zusammenhängenden Buchstaben ergeben ein Wort.
  • Die Druckschrift scheint leichter erlernbar zu sein. Aber auch bei anderen Unterrichtsinhalten (beispielsweise der Bruchrechnung in der 4. Klasse) setzt die Waldorfpädagogik andere Priorität als von „leicht zu schwer“. Und tatsächlich ist es erstaunlich, wie schön die Kinder nach einiger Übung mit der Schreibschrift schreiben können.

Wenn man die Schreibschrift als Erstschrift wählt, so muss man neben den Großbuchstaben immer auch gleich die Kleinbuchstaben einführen. Dies ist viel unproblematischer, als man zunächst denkt. Zwar hat man die doppelte Anzahl an Schriftzeichen, aber die Kinder können sich recht schnell merken, welche zusammengehören.

Durch die Anzahl der Groß- und Kleinbuchstaben verlangsamt sich das Schreiben- und Lesenlernen. Dies ist durchaus im Sinne der waldorfpädagogischen Menschenkunde. Ein Buch wird man erst später lesen können. Es gibt heute auch viel weniger Bücher in Schreibschrift, als dies früher der Fall war. Eine positive Folge davon ist, dass man das Lesen viel länger am Selbst-Geschriebenen übt. Auch das macht Sinn. Der Abstraktionsgrad der Schrift ist beim Lesen nochmals höher als beim Schreiben. Mit dem selbst geschriebenen Text ist man noch ein wenig mehr verbunden, als mit dem gedruckten. Wir wissen ja, dass jede Tätigkeit des Kindes, mit der es innerlich nicht verbunden ist, lebenskräftehemmend wirkt.

Die Einführung der Schreibschrift dauert etwas länger. Andererseits wird man die Zeit, die man hier investiert, leicht wieder aufholen. Das Erlernen der Druckschrift wird später wie von selbst abfallen. Im 1. Schuljahr habe ich insgesamt 15 Epochenwochen für das Schreiben eingeplant. Am Ende des Jahres werden wir daher fast alle Buchstaben eingeführt haben.

Diese Gedanken sind aphoristischer Natur und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind vielmehr dazu gedacht, sich eine eigene Meinung zu bilden.