Erstschrift: Schreibschrift

Ein Beitrag von Marcus Kraneburg (Freie Waldorfschule Freiburg St. Georgen)

In den 90iger Jahren hat sich die Druckschrift als verbindliche Erstschrift in fast allen Bundesländern durchgesetzt. Sie scheint mit ihrer klar abgegrenzten Formensprache insbesondere für Kinder mit weniger ausgeprägten Feinmotorik leichter zu erlernen zu sein. Die Druckschrift begrenzt sich auf gerade Linien, Ovale, Halbkreise und Punkte. Die meisten Buchstaben werden zusammengesetzt, weshalb man nicht mit Schwung schreiben muss, aber auch nicht kann. Ein A braucht drei gerade Linien, die man alle absetzen muss, ebenso ein H. Da kann man zwischendurch mal eine Pause machen, sich neu orientieren und fortfahren. Ein weiteres Argument, das häufig genannt wird, besteht darin, dass Kinder die Druckschrift überall in ihrer Umgebung wahrnehmen können. Dieser Wiedererkennungswert wirkt motivierend.

Trotzdem habe ich in meiner ersten Klasse mit der Schreibschrift begonnen und würde es immer wieder so machen. Es gibt für beide Vorgehensweisen Argumente und jeder muss sie für sich abwägen. Meines Erachtens überwiegen die Gründe für die Schreibschrift als Erstschrift deutlich. Dies möchte ich hier ausführen.

„Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“
Wenn die Kinder mit der ersten Klasse in die Schule kommen, so freuen sie sich insbesondere darauf, schreiben, lesen und rechnen zu lernen. Viele können es gar nicht abwarten, einige haben schon vielleicht vorher ein wenig geübt. Das Schreiben der ersten Buchstaben ist also mit großen Emotionen verknüpft. „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Dementsprechend tief verankert sich die Erstschrift im Kinde. Zudem lässt man sich mit der Erstschrift die meiste Zeit. Sie wird sorgfältig und immer wieder langsam geübt. Jeder neue Buchstabe der Erstschrift ist etwas Besonderes. Machen die Kinder es schön, werden sie von Lehrern, Eltern und Großeltern gelobt.

All diese Erlebnisse hat man bei der Zweitschrift in aller Regel nicht mehr. Sie wird nicht mehr so intensiv eingeführt wie die Erstschrift und nicht so ausgiebig geübt. Während die Erstschrift allein der Schrift willen ausgeführt wurde, erfährt die Zweitschrift nicht mehr diese Aufmerksamkeit. Mit ihr verknüpfen sich Aufgabenstellungen wie Erlebnisberichte oder kleine Nacherzählungen.

Man kann das Erlernen der Erstschrift mit der eigenen Muttersprache und die Zweitschrift mit einer Art Fremdsprache vergleichen. Die Erstschrift verankert sich unmittelbar und tief, die Zweitschrift bleibt in der Regel etwas fremd, weshalb viele Kinder zur Erstschrift zurückkehren, sobald sie frei wählen können. Auf diesem Hintergrund ist es sinnvoll, mit der Schrift zu beginnen, mit der man sich am intensivsten verbinden will.

Nur ein Fünftel der Kinder, die mit Druckschrift begonnen haben, behalten die Schreibschrift langfristig bei. Anders herum liegt der Anteil weit über der Hälfte.

Wohlgefühl
Kinder finden die Schreibschrift meistens schöner als die Druckschrift. Sie zu schreiben vermittelt dem Kind ein Wohlgefühl. Am Anfang der ersten Klasse beginnen viele KlassenlehrerInnen an der Waldorfschule in der ersten Epoche mit dem Formenzeichnen. Fluss, Bewegung, Dynamik der Linienführung ist hier besonders wichtig. Eine Form wird ohne Unterlass mit dem Stift wiederholt nachgefahren. Man überlässt sich ganz dem Gefühl der Form. Das ist eine angenehme, fast schon meditative Tätigkeit. Die Schreibschrift führt dieses Prinzip fort. Sie fließt, macht Schlaufen und Bögen. Erst am Wortende wird abgesetzt. Meines Erachtens entbehrt es einer gewissen Logik, wenn man nach dem Formenzeichnen eine Schrift wählt, die den Schreibfluss fortwährend unterbricht, stakkatomäßig an- und absetzt.

Fehleranfälligkeit der Zweitschrift
Die Bewegungschoreografie beim Schreiben eines Buchstaben unterscheiden sich bei Druck- und Schreibschrift sehr stark. Ist die Bewegungsrichtung der Erstschrift sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen, dann wird die Zweitschrift diesbezüglich fehleranfällig. Viele Schülerinnen und Schüler werden die gewohnten Bewegungsabläufe bestimmter Buchstaben von der Erstschrift in die Zweitschrift unbewusst „herüberretten“ wollen. Dadurch kommt es zu falschen Bewegungsabläufen, die sich gehäuft in die Zweitschrift einschleichen.

Die eigene Handschrift
Eine wirklich individualisierte Handschrift kann man im Grunde nur aus der Schreibschrift entwickeln. Die Druckschrift bietet dazu kaum Raum – sie ist von Anfang an extrem formalisiert. Für eine individualisierte Handschrift ist m.E. die Lateinische Ausgangsschrift am besten. Sie kann mit dem Kind mitwachsen. Es lassen sich Buchstaben verändern und Verbindungen weglassen, Schwünge variieren usw. Somit kann die Schreibschrift Ausdruck der Persönlichkeit werden. Interessant ist eben auch, dass eigentlich niemand seine Unterschrift in Druckbuchstaben ausführt.