Der Winzling

Ein Beitrag von Petra Eimermacher

Wir – die Erstklässler und ich – ‚fanden‘ die Buchstaben in einer langen, sich fortlaufend entwickelnden Geschichte. Da gab es unsere drei Freunde: Rabe Carlotz (Handpuppe), Zwerg Timotei (gefilzt, gleich groß) und den kleinen Burschen (kleine Waldorfpuppe halb so groß wie seine Freunde). Dieses Findelkind wird erst einmal Winzling genannt, weil es weder seinen Namen noch seine Herkunft kennt. Eine Fee berichtet von dem ‚Buch der Sterne‘, in dem ein Jeder aufgezeichnet ist. Aber, nur sie selbst können ihren Namen dort lesen. Sie ermuntert die Drei, die Buchstaben zu lernen, sich auf die Suche zu begeben. Und dann geht’s los.

Zu jedem Buchstaben hören wir ein spannendes Abenteuer, erleben wir ein Bild, finden den Laut und dazu eine Geste oder Bewegung, bevor er gelaufen, geknetet, gemalt, auf den Rücken des Partners …. und schließlich ins Heft geschrieben wird. Das farbige Bild und der große Buchstabe kommen an die Pinwand, wo sie während des ganzen Schuljahres immer wieder Ausgangspunkt für wiederholende Übungen unterschiedlichster Art sind, nicht nur in der Schreibepoche! Wir können uns sogar durch Zeichensprache (unsere Gesten) verständigen und z. B.so den nächsten Mitschüler aufrufen.

Im Frühjahr bekamen die Erstklässler ‚unser‘ Lesebuch, d. h. wir konnten lesen! Es enthielt nämlich viele uns bekannte Gedichte aus dem rhythmischen Teil und einige unserer Buchstabenverse wie: WER NANNTE MEINEN NAMEN DA – NATTER NOLA NONINA?

Um die Kinder wirklich seelisch zu berühren, muss ich als Lehrer auch wirklich in der Geschichte leben, eintauchen in diese schöne Welt, um wunderbare, kindgerechte Abenteuer zu kreieren.

Welche Herausforderungen treffen unsere drei Freunde? Sind sie mutig genug? Haben sie eine gute Idee, eine Lösung zu finden? Können sie ein Floß bauen? Den steilen Berg erklimmen? Aus der Höhle finden? Wo gibt es einen sicheren Unterschlupf bei einem furchtbaren Unwetter? Wer kann ihnen vielleicht helfen? Tiere? Die Fee? Weiter ist dann da die GiGa-Gans, die zu krank war, ihrer Schar auf dem Weg nach Süden zu folgen. Natürlich kümmern sich die Drei um sie! Was tut ihr gut?

Ich habe diese Geschichten im Laufe des Jahres nach und nach entwickelt. Natürlich holte ich mir in Kinderbüchern gerne Inspirationen, z. B. in den ‚Plupp‘-Büchern von Inga Borg aus dem Urachhaus Verlag. Mir hat diese Aufgabe viel Freude bereitet. Die Kinder hatten bald Carlotz, Timotei und den Winzling in ihr Herz geschlossen. Ein Holzhäuschen wurde gebaut, damit die Drei es im Winter auch gemütlich hatten! Obwohl Winzling am Ende der 1. Klasse seinen Namen, seine Eltern gefunden hatte und durch einen Zaubertrank die natürliche Größe erlangt hatte – er war als kleiner Prinz von einer Hexe verzaubert worden – , waren die Kinder sehr enttäuscht, dass ihre Freunde in ihre Heimat zurückgegangen und nicht mehr bei uns waren!

 

Hier ist nun der Anfang meiner Geschichte.

Carlotz fliegt aufgeregt zu Timotei. „ Timotei, es ist zwar noch dunkel, aber ich habe etwas entdeckt. Ich hörte tiefes Atmen und dann … Komm einfach schnell mit!“ Unter einem Baum liegt ein kleines Kerlchen. Das wird langsam wach und schaut sie mit großen Augen an.

Carlotz und Timotei: „Hallo. Guten Morgen. Wer bist du?“ Der Kleine gähnt: „Ich bin ich“. „Aber wie heißt du denn?“ „ICH?“ „Ja du!“ „Ich bin nicht du. Ich bin ICH.“ Carlotz etwas verzweifelt: „Also ihr zwei!“ Er zeigt auf Timotei: „Du bist Timotei“.  Zeigt dann auf sich und sagt: „Ich bin ich. Und du bist?“ Der Kleine: „Ich!“ „Nein, wer bist du!“ „Nein, ich bin ich!“ Carlotz und Timotei: „Oh je! Ich bin ich. Ich bin ich!“ Carlotz: „Also, das ist Timotei. Ich bin Carlotz. Und du bist ….?“ „ICH!“ „Du bist ein winziger Wicht und heißt ….?“ „ICH!“

Ich bin ich.
Ich bin nicht du.
Ich liebe das Licht.
Ich suche das Himmelslicht,
das so wunderschön leuchtet.
Das hat Kraft,
und immer wieder Gutes schafft.
Auch in mir ist Licht,
auch in dem kleinen Wicht.
Mein Licht soll leuchten hier,
Freunde werden wollen wir.
Ich bin ich!

Carlotz :„Ich glaube, jetzt weiß ich’s. Ich bin ich. Und du bist ich (zeigt auf Timotei). Und du bist ich (zeigt auf den Kleinen). Aber jedes Ich hat auch einen Namen. Mein Ich heißt Carlotz, sein Ich heißt Timotei. Und dein Ich?“ Der Kleine: „Woher soll ich das wissen?“

Carlotz: „Aus welchem Nest bist du denn fortgeflogen?“ „Nest? Ich kenne kein Nest.“ Carlotz: „Aus welchem Ei bist du geschlüpft?“ „Ei? Was für ein Ei?“ Timotei: „Wer ist deine Mama? Wer ist dein Papa?“ „Mama? Papa? Nie gehört.“ Timotei: „Weißt du irgendetwas über dich oder deine Familie?“

Ich bin ich.
Ich bin nicht du.
Ich liebe das Licht.
Ich suche das Himmelslicht,
das so wunderschön leuchtet.
Das hat Kraft,
und immer wieder Gutes schafft.
Auch in mir ist Licht,
auch in dem kleinen Wicht.
Mein Licht soll leuchten hier,
Freunde werden wollen wir.
Ich bin ich!

Carlotz und Timotei: „Das ist ein schwieriger Fall! Wir nennen dich erst einmal …. ‚Winzling‘, weil du so winzig bist.“  Timotei : „Vielleicht kann uns die gute Fee ‚Blauäuglein‘ helfen.“  Zauberstab: Hokus Pokus 1-2-3, liebe Fee, komm herbei!“

Die Fee erscheint und erklärt schließlich: „Es gibt das ‚Buch der Sterne‘. Jeder ist dort mit seinem Namen und seiner Familie aufgeschrieben. Aber ein Jeder kann nur seinen eigenen Namen lesen.“

Carlotz und Timotei: „Lesen?“ Sie sehen sich ratlos an. „Wir können doch nicht lesen!“ Fee: „Ihr könnt es lernen. Es ist gar nicht schwer. Ihr müsst nur alle Buchstaben finden. Und einen habt ihr doch schon. Er steckt im ICH und in LICHT. Das I!“ Carlotz und Timotei: „ Das I?“ Fee: „Ja, lauscht einmal. ICH In mIr Ist LIcht …  Hört ihr das I? Fragt doch mal die Kinder nach ihren Namen. Das gibt es viele I. Auch in Timotei ist ein I. Hört ihr es?“

In welchen Namen hören wir ein I? Immer, wenn ihr ein I hört, streckt den Arm hoch zum Licht. Das I ist im Licht. Das Licht ist uns vom Himmel gegeben.

Tafelbild: Winzling mit beiden Armen gestreckt zum Himmel

Die nächsten Buchstabengeschichten deute ich hier nur an. Die Vokale habe ich durch Geschichten zum seelischen Empfinden der Wichte eingeführt.

A   

Die Sonne geht auf. Das Himmelslicht erscheint. Da ruft Winzling ganz gerührt:

AAA! Da kommt das Licht! Da kommt Farbe! Da kommt der Tag!
Da kommt das Licht, das ich so mag!

 

O

Nach dem Picknick am klaren Bächlein wird geruht. Carlotz und Timotei sind entzückt, als  sie Winzling in einer Sonnenblume schlafend finden.

O Sonnenblume aus Gold gewoben, Winzling ist in dein leuchtend‘ Haus gezogen.
Dort schläft er geborgen, ruhet aus bis morgen.

 

Die Drei sitzen am Lagerfeuer, freuen sich über den Sternenhimmel und singen ‚Weißt du wie viel Sternlein stehen‘, als sie eine böse Hexe kommen hören: Ha,ha,ha, da ist er ja, der Winzling! Ich will das zarte Kind, den Winzling! Carlotz und Timotei und Winzling: „Hexe, komm‘ nur herbei. Wir sind drei und schlagen dich zu Brei!“

Jetzt Hexe, nimm den Besen,
renne um dein Leben.
Sonst wird’s was geben.
Wir wehren dir den Weg,
wir sperren dir den Steg.

Die Hexe rennt davon……

 

U  

Es ist dunkel. Der Uhu ruft. Winzling fürchtete sich. Carlotz und Timotei trösten ihn und erzählen vom Leben der Nachtvögel.

U U U,
schließt die Türe zu!
Der Uhu ruft im Dunkeln,
im Sumpf die Unken munkeln.
U U U ,
schließt die Türe zu!

In der zweiten Schreibepoche folgt die Einführung der Konsonanten. Lustig, aufregend, mitfühlend müssen die Erlebnisse und Begegnungen sein! Da sollte jeder Lehrer SEINE Geschichte innerlich erleben und mit großer Empathie den Kindern schenken.

Jetzt möchte ich noch meine Auflösung des Rätsels um Winzling geben, obwohl da sicher ein ganz großer Schatz in jedem einzelnen von uns schlummert.

 

N

Nach dem Abenteuer mit den Riesen erholen sich unsere drei Freunde an einem plätschernden Bach, lassen Schiffchen fahren, …. sammeln glitzernde Steine mit seltsamen Zeichen. Es sind Kreise, Dreiecke, Wellenlinien und Buchstaben: R, L, T, E, O, A, N.  Jetzt werden Muster und Wörter gelegt, u.a. NOLA.

Da erscheint eine weiße Natter mit einem goldenen Krönchen. „Wer hat mich gerufen? Welchem Prinzen darf ich dienen?  Wer nannte meinen Namen da, Natter Nola Nonina?“

Timotei: „Einem Prinzen nicht, aber uns Wichten!“ Die Natter schaut neugierig mit fragendem Blick von einem zum andern. „Woher wusstet ihr meinem Namen?“ Carlotz: „Das war ein Zufall, als wir mit den Kieseln spielten.“ „Zufälle gibt es nicht. Ihr wisst nur nicht, wer euch geholfen hat. Unsere Begegnung hat eine besondere Bedeutung.“ Die Wichte erzählen von ihrer Reise, ihren Erlebnissen und fragen nach einer kleinen Hütte zum Übernachten. „Eine Hütte gibt es hier nicht, aber dort drüben am Grashang werdet ihr eine gemütliche Höhle finden.“ Die Natter begleitet sie. „Vergesst die Steine nicht! Sie könnten euch hilfreich sein!“

 

T

In der Höhle errichten sie zusammen ein weiches Graslager und spielen noch einmal mit den Steinen.

Nola erzählt: „Früher lebte hier Jaku, ein uralter, guter, weiser Zwerg mit langem Bart, schütterem Haar, runzelig, rotbackig, mit lebhaften Augen. Er kannte die Geheimnisse der Pflanzen und Stein. Er kannte ihr Wesen, ihre verborgenen Kräfte. Mit geheimnisvollen Zeichen kennzeichnete er sie. Jaku sammelte Pflanzen aller Art, mischte sie, presste ihre Säfte aus, konnte Wundermittel herstellen.

Dann geschah das große Unglück. Die Hexe ‚Teufelsfuß‘ schlich unbeobachtet in die Höhle, stahl eine Flasche und richtete großes Unheil an. Dem guten König, der sie aus seinem Reich verjagt hatte, entführte sie sein einziges Kind, flößte ihm den Zaubertrank ein, so dass es nicht mehr zu erkennen war. Keiner weiß, wo das Kind ist.

Nicht nur der König, die Königin und das ganze Volk trauern seit der Zeit. Nie mehr wurden der König und die Königin lachend gesehen. Jaku schloss sich aus Trauer und Schuldgefühlen im hinteren Teil dieser Höhle ein, dort hinter dem Tor. Vor Kälte, Hunger und Trauer fiel er in einen tiefen Schlaf. Nur der verwunschene Prinz kann Jaku erwecken und dann selbst von Jaku erlöst werden.“

Die Drei sitzen still und traurig da, schieben die Steine in sich versunken hin und her. Welche Geheimnisse mochten in ihnen stecken? Da legt Winzling  T  O  R . Ein gewaltiger Krach erschüttert die Höhle. Winzling springt auf und starrt gebannt auf das sich langsam öffnende Tor im hinteren Teil ihres Lagers. Eine Eishöhle! Lange Eiszapfen, glitzernde Eiskristalle! Und der uralte, erstarrte Jaku! Das Eis knistert in seinem Haar, in seinem Bart. Jaku haucht: Tritt bei Tauwetter durch das Tor. Und dann erstarrt er wieder. Schnell bildet sich ein Vorhang aus Eiszapfen. Die Höhle ist wieder versperrt!

Natter Nola: „Winzling, willst du weitere Geheimnisse dieser Höhle lüften, höre auf Jakus Worte und komm bei Tauwetter hierhin zurück.“

 

J

Schließlich war das Hochwasser wieder gesunken, die Zugvögel waren zurückgekehrt, die ersten Blüten zeigten sich. Jaku tritt vor die Höhle, reckt und streckt sich, blinzelt ins Sonnenlicht und erblickt jenseits des Flusses Winzling. Jaku winkt, eilt über die Felsbrocken durch den Fluss. Welche Freude erhellt sein Gesicht, als er Winzling umarmt. Viel haben sie sich zu erzählen. Und nun: „Wer bist du, Winzling? Du weißt es nicht?“ Nachdenklich schaut er Winzling an und bereitet ihm dann einen Kräutertrank. Er holt ein goldenes Buch. Das zeigt ein ‚Jaguar-Wappen‘ in Jade gelegt. „Kennst du dieses Wappen, Winzling?“

Da erinnert sich der Kleine ganz langsam. Bilder der Erinnerung steigen in ihm auf. Er hat das Wappen schon einmal gesehen … auf einer Kutsche, … auf dem Fußboden eines großen Saals, … auf einer Jagdtasche … von Alexander. Doch wer war das nur? ... auf einer Krone von Theresia. Wer war sie? Ich sehe sie lächeln. An was erinnere ich mich nur?

Jaku öffnet das goldene Buch und liest: „Alexander und Theresia hatten einen kleinen Sohn. Sein Name war Jonathan … Winzling, du bist Jonathan. Das hier ist das Buch deines Lebens.“ Winzling: „Ich bin ein Prinz?“ Jaku: „Ja, du bist der kleine Prinz Jonathan. Ich muss darüber nachdenken, welchen Kräutertrank ich dir noch geben kann, um den, den dir die Hexe gegeben hat, vollständig aufzuheben.“

Jetzt erkennt der Junge Jonathan den Jaguar in Jade.

Jonathan weiß nun wer er ist. Ist Jakus Buch ein Teil des 'Buchs der Sterne'? Jonathan erinnert sich an viele Erlebnisse aus seinen Prinzenjahren. Noch waren nicht alle Buchstaben bzw. Kombinationen bekannt: x, sch, ...