Karma – Schicksal?

Ein Beitrag von Michael Mühlbauer

Im Religionsunterricht der Oberstufe versuchte ich den Schicksals-, bzw. Karmabegriff in Bezug auf menschliche Beziehungen zu erarbeiten. Dazu wählte ich das folgende Experiment:

Ich nahm zwei Wollfäden verschiedener Farbe, die ich auf eine Länge von 8 bis 10 Metern gleichlang zuschnitt. An das Ende eines jeden Fadens wurde ein Stofftaschentuch geknotet. Auf diese Art gerüstet ging ich in den Unterricht.

Die zwei losen Enden wurden nun einem Schüler zum Halten überreicht. Anschließend „verlegte“ ich vor den Augen der Schüler einzeln die Fäden. Dabei war wichtig, dass die Fäden möglichst „interessante“ Wege durch die Klasse zurücklegten. Dies hieß, dass zum Beispiel ein Faden über einen Tisch, unten wieder durch, dann am Bein abbog, über der Schulter eines Schülers … mit anderen Worten: kreuz und quer, hoch und tief durch den Klassenraum. Der andere Faden nahm einen ganz anderen, aber ebenso fantasievollen Weg. An wohlüberlegten Stellen durften sie sich auch kreuzen. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass sie sich nicht in irgendwelchen Ritzen oder Ecken verklemmen können. Eine Probe ohne Schüler ist also vorher mehr als sinnvoll, da ansonsten das anschließende Erlebnis leidet.

Ist diese Vorbereitung abgeschlossen, so leitete ich folgendermaßen ein: Stellen Sie sich vor, diese Taschentücher an den Enden der Fäden seien zwei Menschen. Hier vielleicht eine junge Frau, in Südfrankreich geboren und lebt jetzt in Paris, arbeitet ihr erstes Jahr als Kindergärtnerin. Jener Mensch, ein junger Mann, kommt aus Heidelberg und studiert dort Archäologie. Der Faden, an dem diese Menschen nun sozusagen hängen, ist ihr Lebensweg. Jetzt darf ich Hannes bitten, (er hielt die beiden Enden noch immer in der Hand) mit der vorderen Hand beide Fäden locker zusammenzuhalten und mit der anderen Hand nach und nach die Fäden langsam gleichzeitig einzuholen. Alle anderen bitte ich, sehr aufmerksam zu verfolgen, was alles den beiden „Menschen“ auf ihrem Lebensweg begegnen kann.

Die Taschentücher begeben sich also auf die Reise. Auch wenn die Fäden sich kreuzten, heißt dies durchaus nicht, dass die Taschentücher sich begegnen. Wie auch immer die Reise verläuft, spätestens am Ende werden sich die Taschentücher direkt begegnen, weil die Fäden ja gleichlang sind.

Karma bedeutet u.a. auch, dass man Beziehungen zu Menschen hat, die man in diesem Leben noch gar nicht kennen, denen man erst noch begegnen wird. Das Leben selbst ist es, was diese Menschen zueinander führt, wie die Fäden die Taschentücher.

Über das Gesehene wurde nun auf dem Hintergrund des Gedankens von Schicksal gesprochen:
Erfahrungen über unmittelbares Vertrautsein von Menschen wurden ausgetauscht. Ebenso die andere Seite: Wo gerät man mit einem Menschen besonders eng zusammen, weil man mit dem Gegenüber ein Problem hat und so weiter und so fort ….

 

Aufgabe

Nun bat ich die Schüler eine fiktive Erzählung zu schreiben, in der eben zwei Menschen an ganz unterschiedlichen Orten geboren wurden, vielleicht mit verschiedenen Wünschen, Träumen und Lebensauffassungen aufwuchsen. Das Leben beginnt für beide seine verschlungenen Bahnen zu laufen und doch sind in gewisser Weise alle Schritte notwendig, um zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort mit einem bestimmten Menschen zusammenzutreffen. Vielleicht kreuzten sich schon die Weg, aber eben nicht gleichzeitig, um Sekunden, Minuten, Stunden, Jahre verschoben?
Wo treffen sie sich? Wie treffen sie sich? Warum fallen sie einander auf? Warum laufen sie nicht wie bei tausend anderen Menschen einfach vorbei …? ….

Faszinierende, teilweise belustigende oder auch tiefgründige Erzählungen entstanden, die wir einander vorlasen. Vieles davon hätte so stattfinden können. Feststellen konnte man ebenso, dass die Wirklichkeit mancher Menschbegegnung keineswegs fantasieloser ist.