ROMAN-EPOCHE: Schüler unterrichten Schüler

Ein Beitrag von Elsbeth Weymann

Lesen  in der Oberstufe

...„ich glaube, man sollte überhaupt nur Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?.... Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns."

(Kafka, Briefe, 1902-24. Gesammelte Werke, Frankfurt, 1950. S. 27f)

Und: lesen muss man lernen.

Die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada sagt: „Es ist eine Kunst, das Alphabeth zu lesen... Als Kind bin ich in ein Buch hineingerannt wie man das eigene Haus betritt. Dann versank ich in die Welt, die dort beschrieben wurde."  

Beim Lesen der phonetischen europäischen Schrift staunt sie dann über den Unterschied. „Man muss sie (die Buchstaben) im Kopf schnell in die entsprechenden Wortlaute umsetzen, weil sonst der Wortsinn hinter der Mauer der Buchstaben versteckt bleibt. Ich darf mir nicht die Schriftzeichen anschauen, sondern muss über sie hinwegfliegen...     

(aus „Verwandlungen, Tübinger Poetik-Vorlesungen", 1998,  S. 45)

 

Jeder von uns hat das einmal erlebt beim Lesenlernen. Und ... vergessen. Mit Oberstufenschülern kann man interessante Gespräche über dies Phänomen führen: Aus lauter kleinen schwarzen Zeichen entstehen vielfältige, individuell verschiedene, farbige Klang-und Bildwelten. Beim Lesen begegnen wir der Welt und uns selbst.

Im Folgenden soll das Augenmerk auf die vielfältigen Möglichkeiten zum Thema LESEN gelenkt werden, die sich der Schule eröffnen. (Ich beschränke mich dabei auf die Arbeit in der Oberstufe.) Natürlich „kann" ein Oberstufenschüler lesen, und es gibt auch richtige Leseratten, die in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf dem Dachboden, in der Hängematte, im Bett, im Schaukelstuhl oder lang ausgestreckt auf dem Fußboden lesen, lesen, lesen ... und die Welt um sich her vergessen. Das Lesen ist nicht "ausgestorben", trotz vielfältiger Prophezeiungen, dass die moderne Medienwelt den Tod des Buches und des Lesens bewirken werde. Aber das Lesen muss wie alle Fertigkeiten geübt und gepflegt werden, wenn es nicht verkümmern soll.

UND DA HAT DIE SCHULE EINE AUFGABE.

Für die Klassen 9 bis 12 gibt es für diese Pflege vielfältige Möglichkeiten. Ausgegebene Leselisten sind meiner Erfahrung nach weniger wirkungsvoll, weil sie meist nur von den Schülerinnen und  Schülern gelesen werden, die sowieso gerne lesen.

Besser ist der konkrete Umgang mit Büchern in der Schule, der LESELUST weckt.

Neuntklässler kann man z.B. in Kurzreferaten ihre Lieblingsbücher vorstellen lassen. Das schafft dann einen Übergang zu den vom Lehrer vorgeschlagenen Büchern, die bis zu einem bestimmten Termin zu Hause gelesen sein müssen, so dass man dann in der Schule darüber sprechen kann.         

Wir haben dies das „Buch des Monats" genannt. Und wenn ab der 9. Klasse verbindlich alle ein bis zwei Monate ein Buch gelesen wurde, über das dann in interessanten Gesprächen, manchmal heftigen Diskussionen geredet wurde, oder zu dem es in der Art des Kreativen Schreibens verschiedene Aufgaben gab, so schaut man bis zur 12. Klasse schon auf eine stattliche Anzahl von Büchern zurück, denen man" begegnet" ist. „Ohne das Buch des Monats hätte ich nur Fachbücher zur Elektronik gelesen", sagte mir rückblickend ein Abiturient.

Eine ganz andere Möglichkeit, neu tief ins Lesen einzutauchen, bietet die zweite Epoche der 11. Klasse, nach der Parzivalepoche. Die Thematik dieser Epoche ist weniger festgelegt.  „Die Parzivalmotive werden in ihren oft schwer erkennbaren Metamorphosen durch die Dichtungen der folgenden Jahrhunderte ... verfolgt", heißt es lapidar bei Caroline von Heydebrand in „Vom Lehrplan der  Freien  Waldorfschule".

Und Heinrich Schirmer macht in seinem Buch „Bildekräfte der Dichtung", Stuttgart 1993 (S.162 ff ) eine ganze Reihe guter und erprobter Vorschläge für diese Epoche. Es eröffnet sich also eine Fülle von Möglichkeiten.    Und die Praxis zeigt auch, dass diese Epoche sehr verschieden gestaltet wird.

Für unser Thema, LESEN IN DER OBERSTUFE, kann es aber heißen, die Schüler einmal ganz anders in die Arbeit an und mit einer Epoche einzubeziehen.

Ausgangspunkt  für meine Überlegungen zur Gestaltung dieser Epoche war  der Eindruck, dass wir vielfach unsere Schüler zu sehr „bedienen", dass es für die Schüler aber wichtig wäre selbständiger im Arbeiten zu werden, nicht zu sehr nach-schaffend zu bleiben und deutlicher Verantwortung für das „Geschehen Unterricht" mit zu übernehmen.

Und so entstand die Idee, einmal die 2. Deutschepoche in der 11. Klasse  im Wesentlichen von den SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN gestalten zu lassen.

 

PLANUNG UND VORBEREITUNGEN

Die Vorbereitungen begannen circa 2 Monate vor Epochenbeginn. „WIR sollen selbst unterrichten?" Erstaunte Fragen der Schüler. Neugierde, wachsendes Interesse, Ideen, lebhafte Diskussionen !!!

 

Ich stellte der Klasse mein Konzept vor:

„Wir werden miteinander eine ROMANEPOCHE gestalten. Jede Schülerin, jeder Schüler wird einen  Roman lesen, und zwar so genau, dass sie/er ihn in sehr viel anspruchsvollerer Form als bisher vor der Klasse darstellen kann." Zwischenfrage: „Und wenn der dann 500 Seiten lang ist?"...Gelächter. „Ja ,und?"

Umrissartig stellte ich ihnen in mehreren Fachstunden 12 Romane vor, von Goethe, „Wilhelm Meister" bis Zoe Jenny, „Das Blütenstaubzimmer". Später , als dringend noch ein Roman „gebraucht" wurde, weil 2 Schüler von einem Auslandsaufenthalt in die Klasse zurückkehrten, kam dann noch der gerade druckfrisch erschienene Roman „Im Krebsgang", von Günter Grass hinzu,

 

SO DASS FOLGENDE  LISTE  ENTSTANDEN WAR:

Goethe:             Wilhelm Meisters Lehrjahre
Dostojewskij:     Verbrechen und Strafe (früher:" Schuld und Sühne" genannt.)
Emil Zolá:          Germinal
Fontane:            Effi Briest
Hesse:               Siddhartha
Döblin:               Berlin Alexanderplatz
Frisch:                Homo Faber
Grass:                Die Blechtrommel
Jurek Becker:     Jakob, der Lügner
Christa Wolf:      Der geteilte Himmel
Zoe Jenny:         Das Blütenstaubzimmer
Grass:                Im Krebsgang

Die Schülerinnen und Schüler hatten nun Zeit, sich für einen Roman zu entscheiden und dafür eine Dreier-oder Vierer-Arbeitsgruppe zu bilden.

Interessant war für mich, dass sich die Gruppen aus Interesse an der Thematik oder Eigenart des Romans bildeten und nicht entsprechend den üblichen" Sympathieclubs".

 

ARBEITSPAPIER ZUR ORIENTIERUNG FÜR DIE GRUPPENARBEIT

I . Das Erarbeiten des Romans  

VORSCHLÄGE :

  1. Der Autor in seiner Zeit.
    Knapp, aber anschaulich. Erzählen! Keine langweilige Aufzählerei von Jahreszahlen!
  2. Inhaltswiedergabe des Romans.
    Das Wesentliche „auf den Punkt bringen".
    Oder : Wesentliche Stellen erzählen, wie ein Märchenerzähler, und anderes dann in großen Bögen, eher zusammenfassend bringen.
           
  3. Die Personen charakterisieren.
    Hauptpersonen, Nebenpersonen und ihre Beziehungen zueinander.
    (Eventuell mit  Zeichnungen an der Tafel.)
  4. Leitgedanken, Bilder oder Symbole:
    etwas, was für den Roman als Ganzes Schlüsselcharakter hat.
  5. Erzählhaltungen und Perspektiven.
  6. Sprache, (mit Textbeispielen) --- und die Gestaltung von Raum und Zeit
  7. Persönliche Empfindungen und Urteile.

 

II. Das Gemeinschaftsreferat

  1. Den Vortrag vor der Klasse gestalten. Eine gut durchdachte Gliederung erstellen.
  2. Die Klasse einbeziehen, sie in Bewegung bringen. z.B.:
    - durch Textarbeiten mit Fragestellungen,
    - eine Szene spielen lassen,
    - etwas umschreiben lassen, (Perspektivenwechsel, oder Anderes)
  3. Was soll im Epochenheft erscheinen? Welche Hausaufgaben?
  4. Wie gestaltet man das Ganze? Den Klassenraum? Karten, Bilder, Kopien, Zitate an der Wand, Musik und vieles mehr.... Was kann man einsetzen, damit eine ATMOSPHÄRE entsteht, die dem Roman entspricht?
 

III. Lernmöglichkeiten für den Einzelnen und die Gruppe:

  1. Sich allein etwas zu erarbeiten; und anschließend zusammen.
  2. Gliedern, einen sinnvollen Aufbau erstellen. Die Arbeiten innerhalb der Gruppe einteilen.
  3. Gemeinsam einen Roman darstellen  und etwas „rüberbringen."
  4. Ein Stück Literaturgeschichte, das erarbeitet wurde.
  5. Umgang mit Sekundärliteratur und Fachlexika.
  6. Anders und neu: lesen,  lesen,  lesen. Anderer Ausgangspunkt, anderes Ziel.

 

IV. Was wird bewertet?

  1. Die gemeinsame Erarbeitung und Darstellung vor der Klasse.
  2. Die Arbeit des Einzelnen. (Die individuell erarbeiteten Teile werden in schriftlicher Form abgegeben)
  3. Das Epochenheft mit den Verlaufsprotokollen zu den Darstellungen der einzelnen Roman, die von jedem Schüler, jeder Schülerin täglich angefertigt werden müssen.
  4. Eine abschließende, mehrstündige Klassenarbeit (Schulaufgabe): als Essay, Textanalyse oder Erörterung.

 

DURCHFÜHRUNG / EPOCHENVERLAUF

Und dann begann die Arbeit der Gruppen. In bestimmten Abständen verlangte ich Protokolle über den Stand der Planungen und der Arbeit der Gruppen. Schließlich war es soweit. Mit großer Spannung wurde die Darstellung der ersten Schülergruppe zu Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre" erwartet.

Die Klasse staute sich auf dem Flur. Ein in altertümlicher Schrift geschriebenes Schild verkündete, dass man auf den Einlass noch zu warten habe. Und als sich die Tür endlich öffnete, war der Anblick überraschend:                

Die Klasse war zu einem Theaterraum umgestaltet und die drei Personen dieser Arbeitsgruppe, zwei Schülerinnen und ein Schüler, erschienen in Kostümen der Goethezeit. Außerdem gab es Requisiten: ein alter Mahagonitisch, ehrwürdig aussehende alte Bücher, Kerzenhalter, Tinte und eine richtige Gänsefeder als Schreibgerät ... und am Tisch saß der „junge Goethe", kratzte mit der Feder über das Papier, sprang dann auf und erzählte, wobei er mit wiegendem Schritt vor der Klasse auf und ab ging, im Sprachstil von „Dichtung und Wahrheit",  sein Leben.

Später wurden Szenen aus dem" Wilhelm Meister" gespielt, auch die Klasse im szenischen Spiel und in verschiedenen Ratespielen eingebunden, die Gruppe rezitierte das „ Mignonlied"  und das Lied des alten Harfners und stellte mit verteilten Sprecherrollen den ja durchaus anspruchsvollen Inhalt so dar, dass die Mitschüler interessiert folgten.

Sehr erfreulich war für mich außerdem , dass die Gruppe ganz selbständig vergleichende Hinweise zum „Parzival" brachte. Sie erinnerte die Klasse an Motive aus der Parzivallektüre: Entwicklung hinge zusammen mit Erfahrung von Irrtum und Schuld. Im Gespräch konnte man so auf gemeinsam Erlebtem aufbauen.

Der Einstieg war gelungen, hatte bei der Klasse helle Begeisterung geweckt und er setzte Maßstäbe für die kommenden Gruppenreferate auf erfreulich hohem Niveau.

Man konnte in den folgenden Tagen nur staunen: Die einzelnen Gruppen überschlugen sich geradezu mit Einfällen der Gestaltung, wie sie die Klasse in die verschiedensten Zeiten, Personen, Handlungszusammenhänge, Stimmungen, Fragen, Gedanken hineinführten.

Die Schülergruppen gestalteten jeweils verantwortlich den Hauptunterricht, die Klasse wurde  mit den verschiedensten Aktivitäten und zu lösenden Aufgaben einbezogen. Jede Schülerin, jeder Schüler schrieb täglich sein Unterrichtsprotokoll und jeden Tag hatte der Klassenraum eine, dem Roman entsprechende, andere Atmosphäre und man wartete gespannt vor der Tür, was einen wohl heute erwarte ...

 

Weitere Beispiele

Mit welchem Einfallsreichtum die einzelnen Gruppen gearbeitet haben, mögen skizzenhaft noch ein paar Beispiele zeigen.

Max Frisch, Homo Faber: 

Der Klassenraum war so gestaltet, dass er Assoziationen an den Maschinenraum eines Schiffes weckte.

Da die Szene des Romans, in der Faber der Sabeth den Maschinenraum des Schiffes zeigt, in der Präsentation der Gruppe eine besondere Rolle spielte, war man bis in die Umgebung hinein schon in besonderer Weise eingestimmt.

Viel anerkennendes Gelächter gab es dann ,als die Gruppe eine selbst gedrehte Videosequenz, in der sie als Schauspieler auftauchten, zeigte, die genau diese Schiffsszene zum Inhalt hatte und die dann selbstbewusst mit der gleichen Szene aus Schlöndorffs Verfilmung von „Homo Faber" verglichen wurde. Natürlich war man „ besser" als Schlöndorff, selbstredend...

 

Günter Grass, Die Blechtrommel:

Mit weißen Papierstreifen „vergitterte" Fenster, die Wände weiß mit Papier ausgeschlagen ,eine Schülerin als Günter Grass persönlich verkleidet, mit Pfeife und Schnauzbart, der im Schaukelstuhl sitzend aus seinem Leben erzählt. Und das Klinik-Gefühl wurde dadurch vervollständigt, dass, außer einer weiß gekleideten „Psychiatrieschwester" ein weiß lackiertes, großes Gitterbett breiten Raum im Klassenzimmer einnahm, in dem eine Schülerin als der Ich-Erzähler des Romans saß, mit einer dem berühmten Original nachgebauten Blechtrommel in der Hand und mit den Originalworten des Romananfangs die Darstellung der Gruppe eröffnete.

 

Christa Wolf, Der geteilte Himmel:

Der Klassenraum war wie eine Gastwirtschaft gestaltet, in der die Schüler an Vierertischen saßen. Der Inhalt des Romans und die Biographie der Autorin wurden in einer fiktiven Talkshow mit dem Thema „Ist Liebe stärker als eine Mauer?" präsentiert.

Mit Musik aus der ehemaligen DDR und Sequenzen aus historischem Filmmaterial zum Bau der Berliner Mauer wurde die für heutige Schüler ja schon recht vergangene Welt lebendig gemacht.

Aufgabe für die Klassenkameraden:
Einen Text schreiben zu dem Thema: "Was würdest Du tun, wenn Deine große Liebe auf der anderen Seite der Mauer wäre?"
Als kleine Erörterung oder frei gestaltet, als Kurzgeschichte ( ... "und dabei bitte die Regeln beachten!", sagten die gestrengen Lehrerinnen und Lehrer...)

 

Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz:

Ein Spiel, mit einem riesigen Stadtplan von Berlin, bei dem die Klasse, aufgeteilt in Gruppen, bei richtigen Antworten (die man nur geben konnte, wenn man bei der Darstellung von Roman und Autorenbiographie vorher aufgepasst hatte!) mit verschiedenfarbigen Papp-Straßenbahnen zum Alexanderplatz vorrücken durfte.

 

Dostojewskij, Verbrechen und Strafe:

Der Klassenraum war der Angst- und Höhlenatmosphäre des Anfangs entsprechend in Schwarzlicht getaucht.

(Damit niemand "depressiv" wurde, gab es süßes Russisches Brot zum Knabbern).... Der gekonnten Führung der Gruppe durch den umfangreichen, schwierigen Inhalt des Romans folgte eine Textaufgabe für die Klasse. Man sollte Stellung nehmen zu der Frage, ob es einen ZWECK gäbe, für dessen Durchführung jedes Mittel recht sei?

Als Textgrundlage diente Raskolnikows Rechtfertigung seines Mordes an der Pfandleiherin, die ja eine „Laus" sei und mit deren Geld man nur Gutes tun könne.

(Eine andere Gruppe einer 11. Klasse hatte bei diesem Roman die Initiative ergriffen und die Übersetzerin der neuen, viel gelobten Dostojewskij- Übersetzung, Swetlana Geier in ihrem Häuschen im Schwarzwald aufgesucht und konnte herrlich anschaulich davon der Klasse erzählen.)

 

Und ... und ... und ..., ein Feuerwerk an Ideen.

Man müsste eigentlich von jeder Gruppe erzählen!!!! Alle hatten ausnahmslos engagiert, selbständig  und einfallsreich gearbeitet. Kein Referat fiel aus oder musste, weil etwa eine Gruppe nicht fertig wurde, verschoben werden. Ein erfreuliches Ergebnis in puncto Verantwortlichkeit für das „Unternehmen Unterricht".

 

Aus zwei Gruppenarbeiten sei noch berichtet:

Zoe Jenny, Das Blütenstaubzimmer
(ein Bestseller, geschrieben von einer Neunzehnjährigen, in über 20 Sprachen übersetzt.)

Eine sehr selbständige Arbeit zweier Schülerinnen, die sich gefühlsmäßig nicht für den Roman erwärmen konnten, die aber dennoch „dranbleiben" wollten, trotz meines Vorschlags etwas Anderes zu wählen.

„Eine junge Frau verlässt den Vater, um die Mutter zu finden. Doch ihr Weg führt zum unausweichlichen Abschied von den Eltern", sagt der Klappentext.(Auch eines der variierten Parzivalthemen).

Die beiden Schülerinnen setzten sich gründlich mit dem Roman und seinen Themen auseinander, kritisierten die depressive Grundhaltung der jungen Protagonistin, konnten unabhängig davon die Sprachkraft der Autorin bewundern und erlebten an sich, was es heißt, dass man „gegen den Strich" liest, dass sich Gegenbilder einstellen. Sie hatten den Eindruck, der jungen Protagonistin helfen zu können, eine andere Einstellung gegenüber dem Leben zu gewinnen. Eine andere Erfahrung als die der Identifikation.

 

Günter Grass, Im Krebsgang:

Außer der Idee, den Inhalt des Romans als Dialog zwischen einer Psychologin und der Hauptperson als "Patient" in einem als Praxisraum gestalteten Klassenzimmer darzustellen, hatten die beiden Schüler die Idee, einen der letzten Überlebenden der „Gustlow", um deren Untergang mit ca 10.000 Weltkriegsflüchtlingen, im Januar 1945, es in Grass' Roman geht, zu interviewen.   

Dieses interessante Telephoninterview, bei dem der überlebende Zeitzeuge Heinz Schön ausführlich und engagiert von seinen Erlebnissen erzählte, hatten sie auf CD aufgenommen und konnten es der Klasse vorspielen.  Das war ein die Gegenwart, die  jüngere deutsche Geschichte und die im Roman gestaltete Geschichte verbindender und durchkreuzender Augenblick, der die Klasse sehr berührte.

 

AUSWERTUNG

In den Nachbesprechungen mit den einzelnen Arbeitsgruppen, in Einzelgesprächen und in Gesprächen mit der Klasse war die Bewertung des ganzen Unternehmens ausnahmslos positiv. Ein 20 Fragen umfassender Fragebogen, den jede Schülerin und jeder Schüler schriftlich zu beantworten hatte, bekräftigte diesen Eindruck noch.

Man hatte das Gefühl einmal „ganz anders" gearbeitet zu haben. Das eigene vertiefte Lesen, die verantwortliche Gruppenarbeit, die vielfältigen originellen Ideen für die Gestaltung des Klassenraumes und die Präsentation als aufregendes Erlebnis einer gemeinsamen Bewährung: all das waren neue, wichtige Erfahrungen. Sehr erfreulich war für mich, dass bei fast allen Schülerinnen und Schülern bei der Frage, welchen der vorgestellten Romane  sie jetzt lesen würden, mehrere genannt wurden. Die Epoche hatte also vielfältige Begegnungen mit Zeiten, Menschen, Schicksalen, Lebensfragen gebracht und: deutlich LESELUST geweckt.

 

AUFGABE DES LEHRERS IN DIESEM UNTERNEHMEN ?

Ist das nun die SCHÜLER-SCHULE, wie so schon einmal  in den Siebziger Jahren propagiert wurde?                      

Lehrerinnen und Lehrer sind natürlich nicht überflüssig in diesem Experiment. Aber ihre Rolle hat diesmal eher den Charakter von "geleiten" als von "führen". Und das ist ja durchaus ein der Oberstufe gemäßes Thema.

In unsrem Projekt sah es so aus, dass der Freitagsunterricht ganz mir gehörte, dass da Rückblicke und Übungen gemacht wurden, und dass von mir Überlegungen und auch Fachbegriffe, den Roman und das Erzählen überhaupt betreffend, gebracht werden konnten, die sich jetzt an vielfältigstem „Material" verdeutlichen ließen:                          

Erzählhaltungen und Perspektiven, die verschiedenen TYPEN, einen Roman zu beginnen, die man dann auch mit einem Terminus benennen kann, Eigenheiten von Stil und Sprache u.s.w..                                               

Für alles Verdeutlichen konnte man auf etwas zurückgreifen, das in besonderer Atmosphäre und mit den verschiedensten Erlebnissen verbunden in der Woche, auf die wir zurückblickten, schon aufgetaucht war. Das schafft eine andere Offenheit und Bereitschaft für das Lernen.

 

FAZIT

Ich habe diese Epoche dreimal, an verschiedenen Schulen gegeben. Sie fiel jedes Mal, den Klassen entsprechend, sehr verschieden aus. Das Echo der Klassen war aber jedes Mal ganz eindeutig positiv. Diese Epoche ist, vielleicht anders als man vermuten würde, was Vor - und Nachbereitung anbelangt, sehr aufwendig. Jeder Tag ist ein Abenteuer und Wagnis. Man steht immer mit dem gepackten  „Notköfferchen" neben sich, bereit und vorbereitet, alles übernehmen zu müssen.

Es ist eindeutig einfacher, eine selbst gestaltete, eigenverantwortete Epoche zu geben, vor allem sehr viel beruhigender.                                                  

Ich habe auch den Eindruck, dass diese Epoche gut in die zweite Hälfte der 11. Klasse passt, da nach meiner Erfahrung hier das Bedürfnis und die Fähigkeit der Jugendlichen, eigene Fragen zu stellen, einen besonderen Charakter hat und man noch nicht von Prüfungs-Schattenwürfen tangiert ist.

Diese Epoche ist eine sehr gute Vorbereitung für die Literaturgeschichtsepoche in der 12. Klasse, die ja einen ÜBERBLICK über die Literaturgeschichte geben soll.

In meinem Oberstufenkonzept für das Fach Deutsch kommt so eine Epoche aber nur einmal vor, denn selbstverständlich muss vieles, was wichtig ist, fortfallen: z.B. das tägliche Rezitieren, das Arbeiten „mit der Nacht", die Folge von „Schluss, Urteil und Begriff" (vgl. R. Steiner ,GA 302 und GA 293), als notwendige Schritte auf dem Weg der Anverwandlung des Lernstoffes...u.v.m.

Aber diese Epoche gehört für mich inzwischen in das große Feld des Literaturunterrichtes. Und dieses ins „Offene segeln" ist eine schöne, anregende und vielseitig öffnende und verbindende Erfahrung.

„KOMM INS OFFENE, FREUND" .... heißt es bei Hölderlin.

 

Ein Beitrag von:

Elsbeth Weymann
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