Blinder und gehörloser Hauptunterricht

Ein Beitrag von Meinrad Schneider (Waldorfschule Freiburg Sankt Georgen)

Im Menschenkundeunterricht der 9. Klasse werden meist auch die Anatomie und die Funktion der Sinnesorgane Auge und Ohr besprochen. Wenn man die unterschiedlichen Qualitäten von Sehen und Hören nicht nur besprechen, sondern auch erleben lassen möchte, kann es eine Hilfe sein, sich durch eigene Experimente - zumindest anfänglich - in die Lebenssituation von blinden und gehörlosen Menschen hineinzuversetzen.

In diesem Zusammenhang habe ich schon öfters - natürlich nach vorheriger Absprache mit der Klasse - einen „blinden" und einen „gehörlosen" Hauptunterricht durchgeführt.

 

Blinder Unterricht

Beim blinden Hauptunterricht bringen die Schüler einen Schal oder Ähnliches mit, um sich die Augen zu verbinden. Sicherheitshalber hat man als Lehrer einige Tücher vorbei, um auch die „Vergesslichen" zu versorgen. Wenn es sich leicht organisieren lässt, geht man in einen Raum, der sich weitgehend abdunkeln lässt, um die Einflüsse von durch den Schal dringendem Restlicht zu minimieren.

Vor allem bei größeren Klassen ist es sinnvoll, noch eine „sehende" Begleitperson für Hilfestellungen dabei zu haben. Wenn sich alle Schüler die Augen verbunden haben, beginnt der Unterricht wie gewohnt mit dem Morgenspruch. Danach gibt es zahlreiche Möglichkeiten, den Unterricht zu gestalten. Mit folgenden Aktivitäten habe ich eigene Erfahrungen. Sie lassen sich unmöglich alle zusammen in einem Unterricht verwirklichen:

  • Besprechung von Hausaufgaben
  • Besprechung von Experimenten, die man am Tag davor gemacht hat. Als „Ergebnissicherung" macht man zum Schluss noch präziser als sonst eine kleine Zusammenfassung, teilt den Schülern danach ein Blatt Papier aus, auf das sie sich einige Stichworte notieren können. Erst nach dem Unterricht darf das Geschriebene betrachtet werden.

    Diese ersten beiden Punkte sind wichtig, weil in diesem Unterricht auch etwas „Normales" gelernt werden soll. Im Auswertungsgespräch an einem späteren Tag, kann man dann die Erfahrungen besprechen, wie gut dies auf dem rein auditiven Weg möglich ist.
  • Geruchliche Wahrnehmungsübungen mit verschiedenen Flüssigkeiten, die in kleinen Gläschen durch die Klasse wandern (z.B. verschiedene ätherische Öle, Gewürze, Tees ...)
  • Tastende Wahrnehmungsübungen mit verschiedenen kleinen Gegenständen, die ausgeteilt werden (z.B. Materialien aus Natur, Haushalt, Werkstatt ...)
  • Alternativ dazu kann man auch kleine Papierschnitzel mit einigen Buchstaben, die mit einer Braille-Schreibmaschine erzeugt wurden, verteilen. Man kann den Schülern das Prinzip der Schrift (8 mögliche Punkte in 2 Reihen) erläutern und sie bitten, das Punktemuster der verteilten Buchstaben zu entziffern und zu notieren.
  • Eine kleine Plastizierübung. Jeder Schüler bekommt einen kleinen Klumpen Ton, der zu einer Kugel geformt wird. Dem Thema entsprechend kann man dann die embryologische Entstehung des Auges aus dem Gehirn durch die verschiedenen Aus- und Einstülpungsprozesse in einfachen Grundgesten plastizieren lassen. Die Schüler sollen sich dann das Produkt optisch vorstellen. Auch diese Vorstellung kann dann am Ende des Unterrichtes verglichen werden mit dem später Gesehenen.
  • Wenn man im Unterrichtsgang bereits beim Ohr angelangt ist, lassen sich verschiedene akustische Experimente gut auch im blinden Zustand durchführen. Hausaufgabe ist dann das Protokoll.
  • Ein kleiner Spaziergang durch das Haus oder über den Schulhof. De Schüler gehen in Gruppen von 8 - 12 Hand in Hand gehenden Personen und werden von einer sehenden Person geführt. Bei Treppen und anderen Hindernissen werden die Schüler natürlich gewarnt. Dabei lohnt es sich Wege und Räume zu wählen, in denen die Schüler nicht unbedingt täglich sind. Nach vorheriger Absprache mit den Mitarbeitern kann man z.B. auch durch Büroräume durch die Küche oder auch durch andere Klassenzimmer gehen. In den Klassenzimmern haben die Lehrer vorher ihre Schüler auf den kurzen Besuch der „Gäste" eingestimmt. Die Schüler bleiben während des kurzen Besuches (die Gäste machen nur einen Rundgang durch den Raum) völlig schweigsam an ihren Plätzen sitzen. In den Nachgesprächen kann dann gefragt werden, ob man noch durch andere Wahrnehmungen ahnen konnte, ob Menschen in den Räumen waren oder nicht.
  • Man kann den Gang durchs Schulhaus in einem Saal oder einer Turnhalle enden lassen und dort den offenen Raum wiederum durch verschiedene Übungen nutzen: sich in einem Kreis aufstellen, sich frei bewegend in kleinen Gruppen finden, in 2er Paaren aufeinander zu gehen und sich dabei mit den Handflächen berühren (Kann ich die Hände meines Gegenübers schon vor der Berührung spüren?)
  • Am Abschluss kann ein kleiner „Erzählteil" stehen, zum Thema passend aus der Erfahrungswelt von blinden Menschen. Eindrucksvoll sind z.B. die autobiografischen Schilderungen von Jacques Lusseyran (Autobiografie: „Das wiedergefundene Licht") oder auch die des Amerikaners Michael May (näheres z.B. unter http://www.spiegel.de/spiegelspecial/a-273550.html  oder ein Interview unter http://www.youtube.com/watch?v=bnefTJx2sCo ), der als Blinder erstaunliche sportliche Leistungen im Alpin-Skifahren und Mountainbiking erbracht hat. Besonders interessant sind auch seine Schilderungen über die zwiespältigen Erfahrungen nach einer gelungenen Augenoperation, die ihm das physische Sehen wieder ermöglichte, wobei aber mangels Erfahrung größte Schwierigkeiten auftraten, das Gesehene auch zu verstehen.
  • Am Ende des Hauptunterrichtes sollte vor dem Klingeln noch etwas Zeit sein, gemeinsam die Binden abzunehmen und die Seheindrücke nach eineinhalb Stunden Abstinenz auf sich wirken zu lassen.

 

Gehörloser Unterricht

Den Zustand eines völlig gehörlosen Menschen kann man nicht so leicht simulieren, weil man das Gehör nicht so leicht „ausschalten" kann wie die Augen. Am besten geht es, wenn man Gehörschutzstöpsel oder Ohropax, die man in die Gehörgänge einführt, kombiniert mit von außen angelegten Gehörschutzkapseln (meist in der schulischen Schreiner- oder Metallwerkstatt zu bekommen). Wenngleich auch durch diese Kombination keine völlige Stille erzeugt wird, verhalten sich die Schüler interessanterweise ruhiger als in einem normalen Unterricht. Dadurch entsteht im Klassenzimmer letztlich doch eine große Ruhe. Auch für solch einen Unterricht gibt es zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten.

  • Die „Besprechung" von Unterrichtsinhalten erfolgt jetzt durch Tafelgespräche. Wer etwas zu „sagen" hat, schreibt seine Gedanken an die Tafel, die während des Unterrichtes viele Male neu gewischt werden muss. Man kann die Tafel zweiteilen in eine Hälfte für solche „Gespräche" und einer anderen, auf der die Ergebnisse übersichtlich für die spätere Übernahme ins Heft notiert werden.
  • Man kann die Schüler neue Inhalte und Zusammenhänge erarbeiten lassen mit Infotexten und Verständnisfragen in Stillarbeit.
  • Manche Experimente zum Sehsinn (z.B. zum Gelben und Blinden Fleck, zu farbigen und schwarzweißen Nachbildern, zu optischen Täuschungen etc. lassen sich auch im schweigenden Zustand durchführen.)
  • Das Anfertigen von anatomischen Zeichnungen nach Tafelvorlage.

Bei beiden Unterrichten sollte man sich am Tag danach Zeit für eine Nachbesprechung der Erfahrungen nehmen. Im Vergleich wird der gehörlose Hauptunterricht oft als weniger eindrucksvoll erlebt. Manche fühlen sich stärker von den anderen isoliert, obwohl man sie sieht, andere empfinden die Ruhe als wohltuend. Daran können sich vertiefte Gespräche über die Qualitäten von Sehen und Hören anschließen, wobei auch deutlich werden kann, dass die Stimme und das Hören in ganz besonderer Weise einen seelischen Zugang zu den Mitmenschen ermöglichen.