Das Jahr 1917

Unermesslich waren die Leiden der Soldaten. Unermesslich war auch das Leid, das die Angehörigen der Toten, Verwundeten, Ver­stümmelten, Gefangenen und Vermissten traf. Immer schwieriger wurde zudem die Ernährungslage in den Kriegsländern, auch im blockierten Deutschland; hier gab es im Winter 1916/17 fast nur Kohlrüben zu essen. Und noch immer war kein Ende abzusehen.

 

Uneingeschränkter U-Boot-Krieg

Im Sommer 1916 hatten Generalfeldmarschall von Hindenburg und sein Stabschef General Ludendorff die oberste deutsche Heeres­leitung übernommen. Seither geriet das Reich immer mehr unter Militärdiktatur. Trotz Warnung des Reichskanzlers Bethmann Holl­weg wurde am 1. Februar 1917 der unbeschränkte U-Boot-Krieg er­öffnet. Die rund 150 Unterseeboote erhielten Befehl, in einem be­stimmten Umkreis der englischen, französischen und italienischen Küste alle Handels- und Passagierschiffe ohne Warnung zu torpedie­ren. So - glaubte man - werde England innerhalb von fünf Monaten ausge­hungert, seine Industrie lahmgelegt, seine Arbeiterschaft arbeitslos sein, und dann werde der Feind, England voran, die Waffen strecken.

Die Wirkung dieses rücksichtslosen Seekrieges war in den ersten Monaten tatsächlich furchtbar. Seine wichtigste Folge aber war, was Bethmann vorausgesehen hatte: Amerikas Eintritt in den Krieg. Am 6. April 1917 erhielt Deutschland die Kriegserklärung der USA und anschließend diejenige von Kuba, Guatemala, Honduras, Costa Rica, Panama, Brasilien, Ecuador, Peru, Bolivien und Uruguay. Die lateinamerikanischen Staaten dachten freilich nur an wirtschaftliche Unterstützung der Alliierten; die USA dagegen versprachen, bis Mitte 1918 eine Million bestausgerüsteter Soldaten in Europa zu lan­den. Ludendorff behauptete kühn, bis dann werde der Krieg längst zugunsten der Mittelmächte entschieden sein.

Er war es nicht, freilich auch nicht in umgekehrtem Sinne. Die hunderttägige deutsch-englische Flandernschlacht im Sommer 1917 übertraf an Schrecken und Leiden sogar die Schlachten bei Verdun und an der Somme; aber die Deutschen hielten stand. Dagegen wurde die russische Front von den Deutschen und Österreichern noch ein­mal um ein beträchtliches Stück ostwärts geschoben. Und die Italie­ner wurden aus den Südtiroler Bergen verjagt und verloren auf der Flucht die Hälfte ihrer Artillerie und 300.000 Gefangene. Nur in weiter Ferne errangen auch die Alliierten einen Erfolg: die Engländer entrissen den Türken Bagdad und Palästina.

 

Russischer Kriegsaustritt

Das wichtigste Ereignis des Jahres 1917 war neben dem Kriegsentschluss Amerikas jedoch das Ausscheiden Russlands. Amerika trat in den Krieg ein; Russland zog sich daraus zurück. Die Misserfolge an der Front und das Massenelend in der Heimat hatten die seit langem bestehende revolutionäre Stimmung des russi­schen Volkes verstärkt. Es kam zu Hungerrevolten, zu Streiks, zu hef­tigen Zusammenstößen der unzufriedenen Bevölkerung mit der Poli­zei und den von der Regierung aufgebotenen Ordnungstruppen - bis diese Truppen eines Tages statt auf die streikenden Arbeiter auf ihre eigenen Offiziere schossen und die Revolution offen ausbrach. Das war im Februar. Anfangs März musste Zar Nikolaus II. abdanken, und seither war das Russische Reich im Einsturz begriffen. Der Krieg wurde allerdings noch fortgesetzt.

 

Lenin und der verschlossene Eisenbahnwagen

Die deutsche Regierung sah das gern; denn ein im Chaos versin­kendes Land konnte kaum mehr nach außen Krieg führen. Man wusste in Berlin auch, dass in Zürich ein führender russischer Kom­munist auf den geeigneten Augenblick wartete, die kommunistische Revolution in Russland zu entfachen. Diesen Mann - Lenin - beför­derte man jetzt, zwei Tage nach der amerikanischen Kriegserklä­rung, in einem verschlossenen Eisenbahnwagen durch Deutschland nach Schweden, damit er von dorther Petersburg erreiche. Und die kurzsichtigen Hoffnungen der deutschen Heeresleitung erfüllten sich: Lenin gewann die Macht und brach hierauf den Krieg mit Deutschland-Österreich ab, weil ihm der Klassenkampf wichtiger war als der Machtkampf zwischen den Völkern. Ende November bot Lenins Regierung den Mittelmächten den Waffenstillstand an, und Mitte März 1918 unterzeichnete sie den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, in dem Deutschland außer den bereits besetzten Gebieten Polen, Kurland und Litauen auch die Abtretung von Livland und Estland und die Räumung Finnlands und der Ukraine verlangte.

Russland verlor damit einen Drittel seiner Einwohner (56 Millio­nen), einen Drittel seiner Eisenbahnstrecken, drei Viertel seiner Eisenerz- und neun Zehntel seiner Kohlenförderung und über fünf­tausend Fabrikanlagen; es musste außerdem eine Kriegsentschädi­gung von sechs Milliarden Mark bezahlen. Lenin bezeichnete den Frieden als schändlich, war aber überzeugt, die Mittelmächte wer­den den Krieg schließlich doch verlieren, und dann werde dieser Ver­trag ungültig sein. Wenig später unterwarf sich auch Rumänien einem ähnlich harten Sonderfrieden.

 

Amerikas Aufstieg zur Weltmacht

So wurde das Jahr 1917 noch mehr als 1914 zu einem Wendepunkt der neueren Weltgeschichte. Hier begann Amerika als Weltmacht der Zukunft in die europäischen Machtverhältnisse einzugreifen, und hier begann Russlands Aufstieg zur kommunistischen Weltmacht.