Die neue Industriestadt entsteht: Manchester 1835

Alexis de Tocqueville, „Notizen von einer Reise nach England", 1835

Eine wellige Ebene, oder vielmehr eine Anhäufung kleiner Hügel. Am Fuß dieser Hügel ein nicht sehr breiter Fluß (der Irwall), der langsam zur Irischen See hinfließt. Zwei Bäche (der Meddlock und der Irk), die zwischen den Bodenerhebungen hin­durchlaufen und sich nach zahllosen Windungen in den Fluß ergießen. Drei Kanäle, von Menschenhand gemacht, die an dieser gleichen Stelle ihre stillen und trägen Fluten zusammenströmen lassen. Über dieses wasserreiche Gebiet, zu dessen Bewässe­rung Natur und Kunst beigetragen haben, sind wie durch Zufall Paläste und Hütten verstreut. Alles in der äußeren Erscheinung der Stadt bekundet die Macht des einzel­nen Menschen, nichts die geregelte Gewalt der Gesellschaft.

Auf Schritt und Tritt enthüllt die menschliche Freiheit ihre eigenwillige und schöpferische Kraft. Nirgends erweist sich die langsame und stetige Tätigkeit der Regierung ... Oben auf den vorhin beschriebenen Hügeln erheben sich dreißig oder vierzig Fabriken. Ihre sechs Stockwerke ragen in die Luft. Ihr unabsehbarer Bereich kündet weithin von der Ballung der Industrie. Um sie herum liegen wie willkürlich verstreut die kümmerlichen Behausungen der Armen; man gelangt zu ihnen auf zahlreichen gewundenen Pfaden.

Zwischen ihnen breitet sich unbebautes Gelände, das den Reiz der ländlichen Natur verloren hat, ohne schon die Annehmlichkeiten der Stadt zu bieten. Der Boden ist dort bereits an tausend Stellen umgewühlt, aufgerissen; aber er ist keineswegs schon mit menschlichen Wohnungen bedeckt. Das sind die Steppen der Industrie. Die Straßen, welche die noch schlecht zusammengefügten Teile der Stadt miteinander verbinden, bieten, wie alles übrige, das Bild eines hastigen und noch unvollendeten Werkes: die eilfertige Leistung einer gewinnsüchtigen Bevölke­rung, die Geld anzuhäufen sucht, um mit einem Schlag alles übrige zu haben, und die bis dahin die Annehmlichkeiten des Lebens verschmäht. Einige dieser Straßen sind gepflastert, aber die meisten weisen Buckel und schlammigen Boden auf, in dem der Fuß des Passanten oder der Wagen des Reisenden einsinkt. Kehrichthaufen, Gebäude­trümmer, Wasserlachen finden sich hier und da vor den Häusern der Einwohner oder auf den mit Höckern und Löchern durchsetzten öffentlichen Plätzen. Nirgendwo sind die Grundwaage des Geometers und das Band des Landmessers an der Arbeit gewesen.

In diesem übelriechenden Labyrinth, mitten in dieser weiten und düsteren Wüste von Ziegelsteinen, ragen hin und wieder schöne Steinpaläste empor, deren kannelierte Säulen das Auge des Fremden überraschen... Wer aber vermöchte das Innere jener abseits gelegenen Viertel zu beschreiben, der Schlupfwinkel des Lasters und des Elends, welche die gewaltigen Paläste des Reichtums mit ihren scheußlichen Win­dungen umfangen und erdrücken? Auf einem Grund, der tiefer liegt als der Fluß und von allen Seiten von mächtigen Werkstätten beherrscht wird, erstreckt sich ein sumpfiges Gelände, das die hier und da gezogenen Gräben weder trockenlegen noch sanieren können. Dort enden gewundene und enge Gäßchen zwischen einstöckigen Häusern, deren schlecht zusammengefügte Bretter und zerbrochene Fensterscheiben schon von weitem eine Art letzten Asyls ankünden, das der Mensch zwischen Elend und Tod bewohnen kann.

Unter diesen elenden Behausungen befindet sich eine Reihe von Kellern, zu denen ein halb unterirdischer Gang hinführt. In jedem dieser feuchten und abstoßenden Räume sind zwölf bis fünfzehn menschliche Wesen wahllos zusammengepfercht. Um dieses Asyl des Elends herum wälzt einer der Bäche, die ich vorhin beschrieben habe, langsam sein stinkendes, von den Industriearbeiten schwarz gefärbtes Wasser. Er wird in seinem Lauf nicht durch Kaimauern begrenzt. Die Häuser sind zufällig an seinen Ufern errichtet worden. Von der Höhe seiner steilen Ufer sieht man, wie der Bach sich mühsam zwischen Erdbrocken, halbfertigen Wohnstätten und frischen Ruinen hindurch seinen Weg bahnt. Das ist der Styx dieser modernen Unterwelt.

Ein dichter schwarzer Qualm liegt über der Stadt. Die Sonne scheint hindurch als strahlenlose Scheibe. In diesem trüben Tageslicht bewegen sich unaufhörlich dreihunderttausend menschliche Wesen. Tausend Geräusche ertönen unablässig in diesem feuchten und finsteren Labyrinth, die Schritte einer geschäftigen Menge, das Knarren der Räder, die ihre gezahnten Ränder gegeneinander reiben, das Zischen des Dampfes, der dem Kessel entweicht, das gleichmäßige Hämmern des Webstuhles, das schwere Rollen der sich begegnenden Wagen. Ständig drängt sich die Menge in dieser Stadt, aber ihre Schritte sind hart, ihre Blicke teilnahmslos, ihr Aussehen düster und roh.

Aus dieser stinkenden Kloake entspringt der stärkste Strom menschlichen Gewerbe­fleißes, von hier aus befruchtet er die Welt.