Platonische Körper erleben

Ein Beitrag von Alexander Heinz (Buchbinder und gibt Gastepochen)

Die Klassenlehrerin der achten Klasse der Schule Blote Vogel in Witten war an meinem Verkaufsstand beim Schulbazar auf allerlei zauberhafte geometrische Spielzeuge und Objekte aufmerksam geworden, so erhielt ich die Einladung, im Hauptunterricht eine Geometrie-Epoche zu geben.

Meine Vorstellung, die Platonischen Körper zu bauen, wandelte sich zum Vorhaben. Nur möglichst groß sollten sie sein. Meine praktische Vorbereitung führte mich zunächst in den Baumarkt. Dort kaufte ich fünfzehn 2,40 Meter lange Stangen Rundholz, Fichte, zehn Millimeter Durchmesser. Da kein Schüler so groß ist, eine Stange in dieser Höhe zu halten, kürzte ich zwölf der fünfzehn Stangen auf zwei Meter, und teilte die restlichen Stangen im Abstand von 40 Zentimeter.

Als Einstimmung habe ich die Schüler nach der Bedeutung des Wortes Geo-Metrie gefragt, und wir haben uns klargemacht, dass ja nur der Mensch die Erde (»Geo«) misst (»Meter«). Jeder konnte gedankliche Werkzeuge (Winkel, Kreise ...) benennen. Mir kam es im Folgenden vor allem auf den Zusammenhang dieser Werkzeuge an.

Der zu einem Klumpen zusammengekaute Kaugummi diente uns in einem ersten gemeinsamen Gedankenexperiment. Durch Auseinanderziehen wird dieser Punkt zu einer Geraden. Wir machten uns klar, dass der gedankliche Punkt im Gegensatz zum Kaugummiklumpen ohne jegliche Ausdehnung auskommt und die Gerade unendlich lang sein kann. Nach dem seitlichen Ausdehnen der Geraden zur Fläche und deren Ausdehnung zum Raum stellten wir ganz aus der Vorstellung heraus einen ersten geometrischen Körper in den Klassenraum: den Würfel.

Wir beförderten die Tische aus der Mitte des Klassenzimmers an die Wände, so dass sich auch hier die Polarität von Zentrum und Peripherie spiegelte, welche im Innen und Außen der Platonischen Körper vorhanden ist.

Mit der Frage, wer mir einen Würfel bauen kann, traten die zwölf langen Holzstangen in Erscheinung. Im Handumdrehen stand der Würfel in der Raumesmitte. Die acht Schüler mussten sich ganz schön bücken und strecken, um an den Ecken alle Stangen schön beisammen zu halten. Durch Nachzählen der Ecken, Kanten und Flächen konnten wir ihn geometrisch genauer bestimmen. Statt Würfel konnten wir ihn nun auch Sechsflächner (Hexaeder) nennen. In den (2 x 2 x 2 =) acht Kubikmeter großen Innenraum konnte man sich hineinstellen. Es passten sogar alle 30 Schüler auf einmal in den Würfel. Dass es sich bei den Platonischen Körpern um konvexe Raumgebilde handelt (wie es in jedem Lehrbuch heißt), war damit klar widerlegt.

Die Frage, welches Minimum an Kanten, Ecken und Flächen zur Bildung eines Körpers nötig seien, führte erstaunlich schnell in gleicher Konstruktionsweise zum Tetraeder, dessen wissenschaftlicher Name sich durch Abzählen der Flächen herleiten ließ.

Die Alltagstauglichkeit der Geometrie überprüften wir in einem Orientierungsexperiment: Eine Schülerin wies eine Mitschülerin mit verbundenen Augen nur durch Zuruf (rechts, links, vorwärts, rückwärts, hoch, runter) durch einen aus Stühlen improvisierten Hindernis-Parcours. Von den Raumesrichtungen kamen wir zum Oktaeder.

Durch das Gegenüberstellen der jeweiligen Anzahl an Ecken, Kanten und Flächen war mit Hilfe der Tafel ein erster Grundstock zu den polaren Verhältnissen gelegt. (Der Würfel hat sechs Flächen und acht Ecken, der Oktaeder acht Flächen und sechs Ecken, der Tetraeder hat sowohl vier Kanten als auch Ecken.)

Mit den 30 kleinen Stäben konnte die außerordentlich schwere Herausforderung ange¬gangen werden, nun auch Dodekaeder und Ikosaeder entstehen zu lassen - die sich übrigens, wie alle anderen keineswegs als nur konvex erwiesen.

 

Für das Ikosaeder mussten zwanzig hilfreiche Hände jeweils fünf Stäbe gleichzeitig festhalten, und zwar so, dass die jeweiligen Neigungswinkel der Flächen und Kanten zueinander exakt genug zur Geltung kamen. Dies gelang den Schülern schließlich. Nach dem Abzählen der Ecken, Kanten und Flächen konnten wir auch hier polare Verhältnisse feststellen.

Als nächster Schritt folgte nun die Aufgabe, eine sinnvolle Ordnung der bisherigen fünf Platonischen Körper zu finden und die Ordnungskriterien zu benennen. Wir fanden diese vom Tetraeder ausgehend in der Addition von Dreiecken, die sich einerseits um Ecken benachbarn (drei beim Tetraeder, vier beim Oktaeder, fünf beim Ikosaeder). Auf der an¬deren Seite konnten wir beobachten, dass sich beim Tetraeder um jede seiner Ecken drei Dreiecke, beim Würfel drei Quadrate, beim Dodekaeder drei Fünfecke benachbarn.

Beim Vergleich der Gestalt der Körper konnte vor allen anderen der Tetraeder als besonders gedrungen und in sich selbst abgeschlossen erlebt werden. Über Würfel und Dodekaeder einerseits und Oktaeder und Ikosaeder andererseits lockerte sich die Gestalt schrittweise, was sich auch in der wachsenden Schwierigkeit des Zusammenbauens widerspiegelte.

Wir prüften nun mit unseren Ordnungskriterien die Lehrbuch-Aussage, dass es nur fünf Platonische Körper geben könne. Wir stellten zunächst fest, dass sich sowohl sechs Dreiecke, als auch drei Sechsecke um eine Ecke benachbarn lassen. Die Anzahl der Flächen (und auch Ecken und Kanten), die sich in diesen Fällen zusammenfügen lassen, ist unendlich groß. Fasst man diese »Unendlichflächner« als Körper auf, muss ihr Innenraum (der bei den anderen Platonischen Körpern ja begrenzt war) genauso unendlich groß sein wie der Umraum. Dann können wir von insgesamt sieben Platonischen Körpern sprechen.

Die Beobachtungen an den Platonischen Körpern halfen uns im Weiteren auf zweierlei Weise: zum einen verschafften sie uns ein sicheres Fundament in der dreidimensionalen Orientierung, zum anderen stimmte uns die Erweiterung der Platonischen Körper von fünf auf sieben mit einer unvermuteten Erfahrung auf den Umgang mit der Unendlichkeit ein.

Nun wendeten wir uns nun den zauberhaften Stülpkörpern zu. An einer umstülpbaren Fläche (»Magic Move«) konnten wir handgreiflich erleben, wie sich der Begriff »oben« durch Metamorphose (Umklappen eines Klappelements) zeitweilig in sein Gegenteil »unten« verkehrt (und gleichzeitig unten zu oben wird). Neben den uns schon vertrauten Raumelementen kommt damit der zeitliche Begriff des Nach-Einanders ins Spiel und tritt in Relation zu den Raumesrichtungen.

Mit Hilfe des von Paul Schatz entwickelten umstülpbaren Würfels gelang es, uns zu vergegenwärtigen, wie ein Punkt auf einer Geraden aus der Endlichkeit durch die Unendlichkeit laufend wieder in die Endlichkeit zurückkommt. Nun hatten die Schüler noch Gelegenheit, sich ein Drahtmodell des Schatzwürfels zu bauen (zusammenzustecken). Der Aufforderung, dafür einen Namen zu finden (die Handelbezeichnung hatte ich bewusst verschwiegen), kam ein Schüler nach: »Das ist doch eine Weltraumschleuse!«.

Die Bilder zum Artikel stammen von Michael von der Lohe.

 

Alexander Heinz ist unter folgender Email erreichbar:

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