Entschuldigungen
Frank McCourt unterrichtete 30 Jahre an New Yorker High Schools. Oft bekam er Entschuldigungen von seinen Schülern, von denen er wusste, dass sie nicht von den Eltern, sondern von den Schülern selbst geschrieben wurden. Ansonsten träge, wortkarg und gelangweilt, entdeckte er in vielen Entschuldigungen den Anflug von Genialität.
Dies brachte ihn auf den Gedanken, das Schreiben von Entschuldigungen im Unterricht zu üben:
„Stellt euch vor, ihr habt einen fünfzehnjährigen Sohn oder eine fünfzehnjährige Tochter, die eine Entschuldigung dafür braucht, dass ihre Leistungen in Englisch nachgelassen haben. Also legt euch ins Zeug.“
Dann kam er auf die Idee, ganz andere Entschuldigungen verfassen zu lassen:
„Eine Entschuldigung von Adam an Gott.“ oder: „An der Tafel: Judas, Attila der Hunnenkönig, Lee Harvey Oswald, Al Capone, alle Politiker Amerikas.“
Eine interessante Unterrichtsidee, die man verschieden variieren könnte.
aus dem Buch von Frank McCourt: Tag und Nacht und auch im Sommer. ISBN: 3-630-87239-5
hier ein Auszug:
„Mikey Dolan gab mir eine handgeschriebene Mitteilung seiner Mutter, in der sie erklärte, warum er tags zuvor nicht in die Schule gekommen war:
Sehr geehrter Mr. McCourt, Mikeys Großmutter die meine Mutter ist und achtzig ist die Treppe runtergefallen weil sie zuviel Kaffee getrunken hat und ich hab Mikey dabehalten damit er sich um sie und sein kleines Schwesterchen kümmert und ich auf Arbeit gehen konnte in dem Coffeeshop in der Fährstation. Bitte entschuldigen Sie Mikey und er wird in Zukunft sein Bestes tun weil er nämlich Ihren Unterricht mag. Hochachtungsvoll Ihre Imelda Dolan. P. S. Seiner Großmutter geht es gut.
Als Mikey mir die Entschuldigung überreichte, die er ganz ungeniert vor meiner Nase gefälscht hatte, sagte ich nichts. Ich hatte gesehen, wie er sie unter dem Tisch geschrieben hatte, mit der linken Hand, um seine Handschrift unkenntlich zu machen.
[…]
Das ist eine nette Entschuldigung, Danny. Sie kann gut schreiben.
McKee-Schüler waren stolz auf ihre Mütter, und nur ein ausgemachter Flegel hätte sich für ein solches Kompliment nicht bedankt.
Er sagte danke und kehrte auf seinen Platz zurück.
Ich hütete mich, ihn zu fragen, ob er die Entschuldigung selbst verfaßt hatte
[…]
Entschuldigungen sind etwas ganz Normales im Schulalltag. Jeder weiß, daß sie getürkt sind, also wozu einen Riesenwirbel machen?
Eltern, die morgens die Kinder rechtzeitig aus dem Haus kriegen müssen, haben wenig Zeit, Entschuldigungen zu schreiben, die in der Schule sowieso nur im Papierkorb landen. Sie haben es so eilig, daß sie sagen, ach, du brauchst noch eine Entschuldigung für gestern, Schatz? Schreib sie dir selber, und ich unterschreib sie. Sie unterschreiben sie blind, und das Traurige daran ist, daß sie gar nicht wissen, was sie sich entgehen lassen. Könnten sie die Entschuldigungen lesen, würden sie feststellen, daß ihre Kinder zu bester amerikanischer Prosa fähig sind: flüssig, einfallsreich, klar, dramatisch, phantastisch, konzis, überzeugend, brauchbar.
Ich legte Mikeys Entschuldigung in eine Schublade, in der bereits Dutzende davon lagen: Zettel jeder Größe und Farbe, bekritzelt, zerknittert, fleckig. Während meine Klasse an dem Tag eine Klausur schrieb, las ich zum ersten Mal die Entschuldigungen, die ich bis dahin nur überflogen hatte. Ich machte zwei Häufchen, eines für die echten, von Müttern verfaßten, das andere für die Fälschungen. Der zweite Stoß war dicker, und die Texte reichten von Genie bis Wahnsinn.
Mir kam eine Erleuchtung. Ich hatte mich schon immer gefragt, wie ich mich bei einer Erleuchtung fühlen würde, und jetzt wußte ich es. Ich fragte mich auch, warum mir diese Erleuchtung nicht schon früher zuteil geworden war.
Ist es nicht seltsam, dachte ich, wie hartnäckig die sich gegen jede Aufgabe, ob im Unterricht oder für zu Hause, sträuben, bei der sie etwas schreiben müssen? Sie jammern und schützen Überlastung vor, und es fällt ihnen offensichtlich schwer, auch nur zweihundert Wörter zu Papier zu bringen, egal, über welches Thema. Aber beim Fälschen von Entschuldigungen entpuppen sie sich als kleine Genies. Warum? Ich habe eine Schublade voller Entschuldigungen, aus denen man eine Anthologie zusammenstellen könnte – Große amerikanische Ausreden oder Große amerikanische Lügen.
Die Schublade war voller Beispiele für amerikanische Könnerschaft, die nie in einen Song, eine Geschichte oder eine gelehrte Abhandlung eingehen würden. Wie war es möglich, daß ich diese Fundgrube bisher nicht beachtet hatte, diese Juwelen der Fiktion, Phantasie, Kreativität, Frömmelei, des Selbstmitleids, der Familienprobleme, der explodierenden Boiler, einstürzenden Decken, Feuersbrünste, Babys und Haustiere, die auf Schularbeiten pinkelten, unerwarteten Entbindungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Fehlgeburten, Raubüberfälle? Das war amerikanische High-School-Prosa erster Güte - packend, realistisch, engagiert, geistvoll, knapp, verlogen:
Aus dem Ofen schlugen Flammen, die Tapete geriet in Brand, und die Feuerwehr hat uns die ganze Nacht nicht mehr ins Haus gelassen.
Die Toilette war verstopft, und wir mußten die Straße hinunter bis in die Kilkenny Bar gehen, wo mein Cousin arbeitet, um die Toilette dort zu benutzen, aber die war von der vorangegangenen Nacht ebenfalls verstopft, und Sie können sich vorstellen, wie schwer es für meinen Ronnie war, sich für die Schule fertigzumachen. Ich hoffe Sie entschuldigen ihn ausnahmsweise und es wird nicht wieder vorkommen. Der Mann in der Kilkenny Bar war sehr nett, weil er Ihren Bruder kennt, Mr. McCord.
Arnold konnte seine Schularbeiten nicht machen, weil er gestern aus dem Zug gestiegen ist und seine Schultasche in der Tür eingeklemmt wurde und der Zug sie ihm entriß. Er rief nach dem Schaffner, aber der überschüttete ihn mit ordinären Beschimpfungen, während der Zug davonfuhr. Dagegen sollte man einmal etwas unternehmen.
Der Hund seiner Schwester hat seine Schularbeit aufgefressen, und ich hoffe, er erstickt daran.
Ihr kleiner Bruder hat auf ihren Aufsatz gepinkelt, als sie heute morgen im Bad war.
Der Mann über uns ist in der Badewanne gestorben, und sie ist übergelaufen, und das Wasser hat Robertas Schularbeiten unbrauchbar gemacht, die auf dem Tisch lagen.
[…]
Sie wußten nicht, daß ehrliche Entschuldigungen von Eltern im allgemeinen banal sind. „Peter ist zu spät gekommen, weil der Wecker nicht geklingelt hat.“ Eine solche Entschuldigung verdiente nicht einmal einen Platz im Abfallkorb.
Gegen Schuljahresende tippte ich ein Dutzend Entschuldigungen auf eine Matrize und verteilte die Abzüge an meine beiden höchsten Klassen. Sie lasen sie, schweigend und aufmerksam.
He, Mr. McCourt, was ist denn das?
Das sind Entschuldigungen.
Wieso, was`n für Entschuldigungen? Wer hat`n die geschrieben?
Ihr, oder jedenfalls ein paar von euch. Ich habe die Namen weggelassen, um niemanden an den Pranger zu stellen. Angeblich wurden die Entschuldigungen von Eltern geschrieben, aber ihr kennt die tatsächlichen Verfasser genausogut wie ich. Ja, Mikey?
Und was sollen wir mit den Entschuldigungen machen?
Wir werden sie vorlesen. Ihr seid nämlich die erste Schulklasse auf der Welt, die sich mit der Kunst des Abfassens von Entschuldigungen beschäftigt, die erste Klasse, die jemals geübt hat, solche Entschuldigungen zu schreiben. Ihr könnt euch glücklich schätzen, einen Lehrer wie mich zu haben, der eure besten schriftlichen Arbeiten, die Entschuldigungen, zum Gegenstand einer schulischen Übung macht.
Sie lächeln. Sie wissen, wir sitzen alle im selben Boot. Sünder unter sich.
Ein paar von den Entschuldigungen auf diesem Blatt stammen von Leuten aus dieser Klasse. Ihr wißt, wer ihr seid. Ihr habt eure Phantasie eingesetzt und euch nicht mit der alten Weckergeschichte begnügt. Ihr werdet euer Leben lang Ausreden brauchen, und es wird euch immer daran liegen, daß sie glaubwürdig und originell sind. Vielleicht werdet ihr irgendwann sogar Entschuldigungen für eure eigenen Kinder schreiben, wenn sie zu spät dran sind, geschwänzt oder sonstwas ausgefressen haben. Das könnt ihr jetzt üben. Stellt euch vor, ihr habt einen fünfzehnjährigen Sohn oder eine fünfzehnjährige Tochter, die eine Entschuldigung dafür braucht, daß ihre Leistungen in Englisch nachgelassen haben. Also, legt euch ins Zeug.
Sie schauten nicht in die Luft, kauten nicht an ihren Stiften, trödelten nicht. Sie wollten sich unbedingt gute Entschuldigungen für ihre fünfzehnjährigen Sprößlinge ausdenken. Es war ein Akt der Loyalität und der Liebe, und wer weiß, vielleicht würden sie den Text ja irgendwann gebrauchen können.
Heraus kam eine Rhapsodie der Kalamitäten, von der Durchfallepidemie in der Familie über den ins Haus krachenden Sattelschlepper bis zu einem schweren Fall von Lebensmittelvergiftung, der auf das Essen in der Kantine der McKee High School zurückgeführt wurde.
Sie sagten, toll, toll, dürfen wir noch mehr schreiben?
Ich erschrak. Wie sollte ich mit dieser Begeisterung umgehen?
Abermals ein Geistesblitz, eine Erleuchtung, eine Epiphanie, was immer. Ich ging an die Tafel und schrieb: „Als Hausaufgabe für heute Abend.“
Das war ein Fehler. Das Wort Hausaufgabe weckte negative Assoziationen. Ich wischte es weg, und sie sagten, ja, ja.
Ich sagte ihnen, ihr könnt ja hier anfangen und es zu Hause oder auf der Rückseite des Mondes fertigmachen. Ich möchte, daß ihr schreibt...
Ich schrieb an die Tafel: „Eine Entschuldigung von Adam an Gott“ oder „Eine Entschuldigung von Eva an Gott“.
Die Köpfe senkten sich. Die Kugelschreiber flogen übers Papier. Das schafften sie mit einer Hand auf dem Rücken. Mit verbundenen Augen. Verstohlenes Lächeln allenthalben. Ah, das macht Spaß, und wir können uns schon vorstellen, was da kommt, oder? Adam schiebt es auf Eva. Eva schiebt es auf Adam. Beide schieben es auf Gott oder Luzifer. Alle sind schuld, bis auf Gott, der das Sagen hat und sie aus dem Paradies schmeißt, so daß ihre Nachkömmlinge an der McKee Vocational and Technical High School landen und Entschuldigungen für den ersten Mann und die erste Frau schreiben, und vielleicht braucht sogar Gott selbst eine Entschuldigung für einige seiner großen Fehler.
Die Glocke läutete, und zum ersten Mal in meiner dreieinhalbjährigen Lehrerlaufbahn sah ich Schüler, die so in eine Aufgabe vertieft waren, daß hungrige Mitschüler sie drängen mußten, endlich Schluß zu machen und hinauszugehen.
He, Lenny. Jetzt komm endlich. Mach`s in der Kantine fertig.
Am nächsten Tag hatte jeder Entschuldigungen, nicht nur von Adam und Eva, sondern auch von Gott und Luzifer, manche mitfühlend, andere fies. Lisa Quinn als Eva rechtfertigte Adams Verführung damit, daß sie es überdrüssig war, tagein, tagaus nur im Paradies herumzuliegen und nichts zu tun zu haben. Außerdem ging es ihr auf die Nerven, daß Gott ständig seine Nase in ihre Angelegenheiten steckte und ihnen nie auch nur einen Augenblick Privatleben gönnte. Er selbst war ja fein raus.
Er konnte sich irgendwo hinter einer Wolke verstecken und ab und zu seine Donnerstimme erschallen lassen, wenn er sah, daß sie oder Adam sich seinem kostbaren Apfelbaum näherten.
Hitzig wird debattiert, wem der größere Anteil an Schuld und Sünde zuzurechnen sei, Adam oder Eva. Luzifer in Gestalt der Schlange ist ein Mistkerl, ein Fiesling, ein Scheusal - darüber sind sich alle einig. Keiner ist mutig genug, um irgend etwas Abträgliches über Gott zu sagen, nur andeutungsweise ist herauszuhören, ein bißchen mehr Verständnis für die Misere des ersten Mannes und der ersten Frau hätte er schon aufbringen können.
Mikey Dolan sagt, so dürfte man an katholischen Schulen niemals reden. Herrgott noch mal, pardon, die Nonnen würden einen an den Ohren aus der Bank zerren und die Eltern einbestellen, um sie zu fragen, wo ihr Kind diese gotteslästerlichen Ideen her habe.
Andere Jungen in der Klasse, Nicht-Katholiken, prahlen, so eine Scheiße würden sie sich nicht gefallen lassen. Sie würden die Nonnen in den Hintern treten, und warum eigentlich alle katholischen Jungs solche Schisser seien.
Die Diskussion uferte aus, und ich machte mir Sorgen, das eine oder andere davon könnte katholischen Eltern zu Ohren kommen, die sich dann gegen die Erwähnung von Tätlichkeiten gegen Nonnen verwahren würden. Deshalb fragte ich, ob ihnen irgend jemand auf der Welt, in Gegenwart oder Vergangenheit, einfalle, der eine gute Entschuldigung gebrauchen könnte.
Ich schrieb die Vorschläge an die Tafel:
Eva Braun, Hitlers Freundin.
Ich fragte, und Hitler selbst?
Ne, ne, der doch nicht. Für den gibt`s keine Entschuldigung.
Aber vielleicht hatte er ja eine unglückliche Kindheit.
Das ließen sie auch nicht gelten. Eine Entschuldigung für Hitler könne zwar eine große Herausforderung für einen Schriftsteller sein, aber von ihnen bekäme er keine.
An der Tafel: Julius und Ethel Rosenberg, 1953 wegen Hochverrats hingerichtet.
Wie war`s mit Entschuldigungen für Wehrdienstverweigerer?
O ja, Mr. McCourt. Die Typen haben alle möglichen Entschuldigungen. Die wollen nicht für ihr Vaterland kämpfen, aber wir sind da anders.
An der Tafel: Judas, Attila der Hunnenkönig, Lee Harvey Oswald, Al Capone, alle Politiker Amerikas.
Ach, Mr. McCourt, könnten Sie auch ein paar Lehrer dazuschreiben? Nicht Sie, aber diese blöden Pauker, die uns jeden zweiten Tag Proben schreiben lassen.
Tut mir leid, das geht nicht. Das sind meine Kollegen.
Okay, okay, aber wir können denen ja Entschuldigungen schreiben und erklären, warum sie so sein müssen.
Mr. McCourt, der Rektor kommt.
Mir wird mulmig. …