Die vier Temperamente ...
... als stilistisches Mittel im Satzbau
Dieser Beitrag entstammt in Ausschnitten der Studienarbeit von Natalie Eva Pohl ( 3. Studienjahr, Witten-Annen - Institut für Waldorf-Pädagogik, 2012/13) zum Thema: Die Temperamente als stilistisches Mittel - Was sind die Merkmale der verschiedenen Stile? (Klassenstufe: 8. Klasse)
Die Arbeit wurde betreut von G. Kellermann und C. Brandauer.
Die vier Temperamente als Stilmittel im Satzbau
Wenn man einen Text auf seinen Schreibstil hin untersuchen mochte, so kann man auch versuchen, sein „Temperament" zu ergründen. Und zwar nicht auf inhaltlicher Ebene, sondern auf Satzbau-Ebene.
So kann man, trotz aller Logik und „Kopfarbeit", die die Grammatik verlangt, auch gefühlsmäßig an das Wesenhafte, an die Stimmung eines Satzes oder Textes herankommen.
In den meisten Texten sind - wie auch beim Menschen - die Temperamente selten in ihrer reinen Form zu finden, aber oft können wir doch eine Tendenz in die eine oder andere Richtung feststellen.
Der Choleriker:
- gefühlsmäßig sehr ansprechbar
- neigt zu Affekten (Gefühle, die sich stürmisch äußern, aber - zum Glück - nicht lange anhalten)
- der kleinste Anlass kann ihn wütend und jähzornig machen
- dann schimpft er, poltert, verliert seine Beherrschung und weiß nicht mehr genau, was er tut
- bis die Erregung abklingt, urteilt er ungerecht und ist nicht mehr Herr seiner Handlungen
- kann sich leidenschaftlich und energisch für etwas einsetzen - auch wenn die Vernunft dagegen spricht
- manchmal stürmt er los und will mit dem Kopf durch die Wand
- Geduld fällt ihm schwer
- er ist bis auf die Affektausbrüche ausdauernd, beständig und zuverlässig
Eigenschaften wie...
begeisterungsfähig, leidenschaftlich, entschlossen, ausdauernd, verlässlich, initiativreich
Aber auch...
reizbar, jähzornig, ungeduldig, unbeherrscht, eigensinnig, nachtragend
Der cholerische Satzbau:
Textauszug:
Ja, Sire, wir waren Brüder! Brüder durch
Ein edler Band, als die Natur es schmiedet.
Sein schöner Lebenslauf war Liebe.
Für mich sein großer, schöner Tod. Mein war er,
Als sie mit seiner Achtung groß getan,
Als seine scherzende Beredsamkeit
Mit ihrem stolzen Riesengeiste spielte.
Ihn zu beherrschen, wähnten sie - und warne
Ein folgsam Werkzeug seiner höheren Pläne.
Dass ich gefangen bin, war seiner Freundschaft
Durchdachtes Werk. Mich zu erretten, schrieb
Er an Oranien den Brief - O Gott,
Er war die erste Lüge seines Lebens!
Mich zu erretten, warf er sich dem Tod,
Den er erlitt, entgegen. Sie beschenkten ihn
Mit ihrer Gunst - er starb für mich. Ihr Herz
Und ihre Freundschaft drängen sie ihm auf,
Ihr Szepter war das Spielwerk seiner Hände;
Er warf es hin und starb für mich!
Und war es möglich? Dieser groben Lüge konnten
Sie Glauben schenken?
Friederich Schiller, „Don Carlos"
Merkmale:
- (hier) kurze Sätze
- Dynamische Sätze
- einfache Satzstruktur
- wenig Nebensätze
- Übersichtlichkeit
- Ausrufesätze
- Akzentsetzung auf den Satzbeginn
- kein übermäßiger Gebrauch von Adjektiven
- klar strukturierte „Satzbaumelodie"
- „feuert an"
Der Phlegmatiker:
- Gegenteil des Cholerikers: was der eine zu viel hat, hat der andere zu wenig
- gefühlsmäßig wenig erregbar
- viele Dinge berühren ihn innerlich nicht
- aus seiner geradezu unerschütterlichen Ruhe kann ihn schwer etwas herausreißen
- während andere längst unter "Hochdruck" stehen, bleibt er kaltblutig und behält die Nerven
- ist nur schwer zu begeistern
- reagiert trocken und nüchtern
- hat er zu etwas eine Einstellung gefunden, so erweisen sich seine Gefühle als anhaltend
- ist beständig und anhänglich; in der Arbeit gleichmäßig und bedächtig
- rasches Reagieren, öfters Umstellen auf wechselnde Ereignisse in Beruf oder Familie liegen ihm nicht
- kann bequem und träge sein
- hängt an Gewohntem, fühlt sich wohl im vertrauten Trott
Eigenschaften wie...
zufrieden, ausgeglichen, ruhig, kaltblütig, verträglich, anhänglich
Aber auch...
gleichgültig, begeisterungslos, uninteressiert, "faul", bequem, unentschlossen,
Der phlegmatische Satzbau:
Textauszug:
Als sich der Kutscher entfernt hatte, stand ich an dem Fenster und betrachtete, was draußen geschah. Anna, meine Haushalterin, erzählte mir Geschichten, wie Menschen an Orten eingeschneit worden seien und lange nicht fortgekonnt hatten. Da ich selber in einem Schneelande geboren und mit Wintersturmen vertraut bin und weiß, wie das ausläuft, achtete ich nicht auf sie. Ich kehrte meine Aufmerksamkeit nach außen. Die Gestaltungen
der Gegend waren nicht mehr sichtbar. Es war ein Gemisch da von undurchdringlichem Grau und Weiß, von Licht und Dämmerung, von Tag und Nacht, das sich unaufhörlich regte und durcheinander tobte, alles verschlang, unendlich groß zu sein schien, in sich selber bald weiße, fliegende Streifen gebar, bald ganz weiße Flächen, bald Ballen und andere Gebilde und sogar in der nächsten Nahe nicht die geringste Linie oder Grenze eines festen Körpers erblicken ließ. Selbst die Oberfläche des Schnees war nicht klar zu erkennen. Die Erscheinung hatte etwas Furchtbares und großartig Erhabenes. Die Erhabenheit wirkte auf mich mit Gewalt, und ich konnte mich von dem Fenster nicht trennen. Nur war ich des Kutschers wegen, der jetzt zwischen mir und Schwarzenberg sein musste, besorgt. Das Thermometer stand unbeweglich auf Null.
Adalbert Stifter, „Der große Schneefall im Bayrischen Walde"
Merkmale:
- lange bis sehr lange Sätze
- Aneinanderreihungen
- Wiederholungen
- fließende „Satzbaumelodie"
- ruhige Stimmung
- kaum Ausrufesätze
- Gleichmäßigkeit
- viele Aufzählungen
- „geruhsame Reihung"
- „beruhigt"
Der Sanguiniker:
- gefühlsmäßig ansprechbar
- neue Gefühle entstehen leicht und schnell
- aufgeschlossener Mensch
- leicht begeisterungsfähig
- interessiert sich für vieles
- findet schnell Kontakt
- seine Gefühle wechseln rasch, oft aber ohne tiefe Spuren zu hinterlassen
- er neigt zu "Strohfeuer" - Reaktionen
- kommt über Misserfolge schnell hinweg
- ist meist heiter und lebensfroh, ohne ängstliche Bedenken bei neuen Aufgaben
- Motto: "Das schaffe ich schon!"
- kann sich rasch auf neue Situationen einstellen
- die Gefühle halten nicht lange an
- seine Meinung kann schnell umgestimmt werden
- vergisst Dinge, die er sich vorgenommen hat
- Neigung seine Gefühle überschwänglich auszudrücken
Eigenschaften wie...
froh, zuversichtlich, feinfühlig, interessiert, beweglich, redegewandt, herzlich, lebhaft
Aber auch...
leichtsinnig, ablenkbar, unbeständig, unbesonnen, geschwätzig
Der sanguinische Satzbau:
Textauszug:
Indem, wie ich mich so umsehe, kommt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran, der mochte wohl schon einige Zeit hinter mir drein gefahren sein, ohne dass ich es merkte, weil mein Herz so voller Klang war, denn es ging ganz langsam, und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. Die eine war besonders schön und jünger als die andere, aber eigentlich gefielen sie mir alle beide.
Als ich nun aufhörte zu singen, ließ die ältere stillhalten und redete mich holdselig an: "Ei, lustiger Gesell, Er weiß ja recht hübsche Lieder zu singen." Ich nicht zu faul dagegen: "Euer Gnaden aufzuwarten, wüßt ich noch viel schönere." Darauf fragte sie mich wieder: "Wohin wandert Er denn schon so am frühen Morgen?" Da schämte ich mich, das ich das selber nicht wüßte, und sagte dreist: "Nach Wien"; nun sprachen beide miteinander in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Die jüngere schüttelte einige Male mit dem Kopfe, die andere lachte aber in einem fort und rief mir endlich zu: "Spring Er nur hinten mit auf, wir fahren auch nach Wien." Wer war froher als ich! Ich machte eine Reverenz und war mit einem Sprunge hinter dem Wagen, der Kutscher knallte, und wir flogen über die glänzende Straße fort, das mir der Wind am Hute pfiff.
Joseph von Eichendorff, „Aus dem Leben eines Taugenichts"
Merkmale:
- Lange Sätze
- Aneinanderreihungen
- Nebensätze
- Abwechslung im Erzählfluss (hier die direkte Rede)
- Verschiedene Satzarten
- „belebend"
Der Melancholiker:
- Gegenteil des Sanguinikers
- ist gefühlsmäßig ansprechbar
- ihn berührt und beeindruckt nicht alles
- beschränkt sich beim Aufnehmen neuer Eindrucke auf Wesentliches
- was ihn anspricht, beschäftigt ihn längere Zeit
- Gefühle wechseln nicht so schnell, wirkt verschlossen
- besitzt keinen großen Freundeskreis
- Freundschaften sind beständig
- liebt es manchmal allein zu sein
- fleißig, sorgfältig und ausdauernd im Beruf
- kleine Misserfolge bedrucken ihn
- rasches Umstellen liegt ihm nicht
- typisch ist eine eher traurige, gedrückte Stimmung; unbeschwertes Lachen ist selten
- Motto: "Das schaffe ich bestimmt nicht!"
Eigenschaften wie...
beständig, fleißig, gründlich, gewissenhaft, treu, zuverlässig
Aber auch...
verschlossen, schwermutig, ängstlich, empfindlich, mutlos
Der melancholische Satzbau:
Textauszug:
Da ich nun überzeugt bin, das, was der Mensch wissen muss, er auch wissen könne und dürfe, so gehe ich aus dem Gewühl der Szenen, die wir bisher durchwandert haben, zuversichtlich und frei den hohen und schönen Naturgesetzen entgegen, denen auch sie folgen.
Der Zweck einer Sache, die nicht bloß ein totes Mittel ist, muss in ihr selbst liegen. Waren wir dazu geschaffen, um, wie der Magnet sich nach Norden kehrt, einem Punkt der Vollkommenheit, der außer uns ist und den wir nie erreichen könnten, mit ewig vergeblicher Mühe nachzustreben, so wurden wir als blinde Maschinen nicht nur uns, sondern selbst das Wesen bedauern dürfen, das uns zu einem tantalischen Schicksal verdammte, indem es unser Geschlecht bloß zu seiner, einer schadenfrohen, ungöttlichen Augenweide schuf.
Wollten wir auch zu seiner Entschuldigung sagen, dass durch diese leeren Bemühungen, die nie zum Ziele reichen, doch etwas Gutes befördert und unsere Natur in einer ewigen Regsamkeit erhalten würde, so bliebe es immer doch ein unvollkommenes, grausames Wesen, das diese Entschuldigung verdiente; denn in der Regsamkeit, die keinen Zweck erreicht, liegt kein Gutes, und es hatte uns, ohnmächtig oder boshaft, durch Vorhaltung eines solchen Traums von Absicht seiner selbst unwürdig getäuschet.
Herder, Johann Gottfried, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Merkmale:
- Lange verschachtelte Sätze, komplizierte Satzbögen
- viele Nebensätze
- trotz der verschachtelten Sätze, hat man den Eindruck einer harmonischen „Satzbaumelodie"
- kunstvolle Satzfiguren
- „fordert das Mitdenken"