Perspektivisches Zeichnen

Ein Beitrag von Charlotte Günther (Tübinger Freie Waldorfschule)

„Wer die Perspektive ändert, sieht die Dinge in einem ganz anderen Licht."

Karl Schinkei

 

In der 4. Klasse, also einige Zeit nach dem Rubikon, beschäftigen sich die Kinder in der Heimatkundeepoche zum ersten Mal mit ihrem eigenen Standpunkt. Sie suchen und benennen den Horizont. Erkennen, dass dieser in den Bergen so ganz anders aussehen kann als am Meer, er wandelt sich also je nach Umgebung. Gemeinsam kann man darüber staunen, dass jeder Mensch seinen eigenen Zenit und Nadir hat, egal, wo er sich gerade aufhält. Und schließlich werden auch noch die Himmelsrichtungen am Sonnenlauf abgelesen und im Klassenzimmer angeschrieben. Eine Sicherheit gebende Orientierung im Raum wird dadurch möglich.

In der 7. Klasse, einige Zeit nach der Vollendung des 12. Lebensjahres und mit dem Eintritt in die Pubertät, bietet der Lehrplan der Waldorfschule wiederum eine großartige Lebens- und Orientierungshilfe für die Kinder, nun jedoch im künstlerisch-praktischen Tun: Aufbauend auf den bisherigen Formenzeichen- und Geometrieübungen wird nun im 7. Schuljahr durch das Erüben der Linearperspektive das räumliche Vorstellen geschult. Die Grundlage des perspektivischen Zeichnens sind Regeln und Gesetze. Diese werden nicht von außen durch den Lehrer formuliert, sondern sie ergeben sich ganz und gar aus der Sache selbst heraus und ermöglichen so Objektivität und wirken ordnend.

Auch hier suchen wir wieder den Horizont und legen ihn auf dem Blatt fest. Längst haben die Kinder ja bemerkt, dass Dinge oder Personen, die sich weiter entfernt vom eigenen Standpunkt befinden, kleiner wirken. Betrachten wir dieses Phänomen nun bewusst und genauer, können wir feststellen, dass sich z.B. die Seitenlinien einer geraden Straße am Horizont in einem einzigen Punkt treffen: Dem sogenannten Fluchtpunkt. Sind diese beiden wichtigen Begriffen: Horizontlinie und Fluchtpunkt gefunden und formuliert, kann man jetzt zeichnerisch untersuchen, wie sich z.B. ein rechteckiger Körper, der sich unterhalb der Horizontlinie befindet nach hinten verjüngt oder welche Seiten und Kanten bei einem die Horizontlinie schneidenden kubischen Körper sichtbar erscheinen. Im ersten Fall sehen wir z.B. die obere Fläche, im zweiten nicht. Bereits an diesem einfachen Beispiel wird deutlich, dass nun auch aktiv mitgedacht werden muss. Es gibt bei den abzubildenden Gegenständen oder Häusern Linien und Flächen, die nicht sichtbar sind, die aber für eine perspektivisch exakte Zeichnung berücksichtigt werden müssen. Vor dem Zeichnen muss eine exakte Vorstellung gebildet werden und ich muss mich während der Arbeit genau an die Regeln und Gesetze halten - das Auge entdeckt jeden Fehler sofort und fordert Korrektur.

Neben dem eigenen, können bei der zeichnerischen Darstellung auf dem Blatt auch andere Standpunkte angenommen werden: Eine Landschaft kann aus unserer gewöhnlichen Sichthöhe oder aber auch aus der sogenannten Vogel- oder Froschperspektive angeschaut und gezeichnet werden. Wir verlassen dann denkerisch und zeichnerisch unseren Platz. Mit anderen Worten: wir können dieselbe Situation aus verschiedenen Perspektiven betrachten und darstellen.

Sind die technischen Konstruktionen auf dem Blatt abgeschlossen und alle „unsichtbaren" Linien wieder wegradiert, wird die Zeichnung entweder in Farbe oder schwarz-weiß im Anschluss an die Schattenlehre der 6. Klasse zu Ende geführt.

Danach ist es ein Genuss, diese exakt konstruierten und doch künstlerisch gestalteten Zeichnungen gemeinsam an der Wand des Klassenzimmers zu betrachten.

In den Geschichtsepochen der 7. Klasse erzählen wir den Schülern von den großartigen Entdeckungen und Erfindungen des 15. Jahrhunderts; in die Zeit der Renaissance, die in Italien, vor allem in der Toskana ihren Ausgang nahm, fällt auch die Entdeckung der Zentralperspektive durch Filippo Brunelleschi, den Erbauer der Kuppel des Doms in Florenz. Konstruktionen konnten seit jener Zeit räumlich dargestellt werden und es wurde dadurch auch möglich, mit Zeichnungen die Wirkung eines Raumes aufzuzeichnen und so Skizzen und Entwürfe zu kontrollieren. Auch daran knüpfen wir in der 7. Klasse mit dem Zeichnen an und eröffnen den Schülerinnen damit weitere Entwicklungsmöglichkeiten.

 

„Ich glaube nicht an simple Gegensätze, an Schwarzweiß, an ,richtige' und ,falsche' Perspektive. Es gibt ja unendlich viele gleichberechtigte Perspektiven der Realität."

Luciano Berio