Der Blaue Reiter

Als Besonderheit an der Daglfinger Waldorfschule gibt es für unsere beiden 7. Klassen gleich zu Beginn des Schuljahres eine Blaue Reiter Epoche. In den bunten Herbst starten wir mit einer Exkursion zu den Künstlerorten Kochel und Murnau. Nach einer Einführung in der Schule wandern wir vor Ort auf den Spuren der Künstler des „Blauen Reiters“, wir skizzieren in der Natur und malen abends in der Stube. Gleich im Anschluss an die Exkursion wird über zwei Tage ein großformatiges Ölbild gemalt. Ein Besuch des Lenbachhauses rundet diese Epoche ab.

Doch zunächst: Wer war die Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“. Die Gruppe formierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre bedeutenden Vertreter sind Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Franz Marc, August Macke, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin. Obgleich die Künstlervereinigung des Expressionismus von der Gründung im Jahr 1911 bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs nur wenige Jahre bestand, war dieser Zeitraum jedoch umso intensiver. Die Bezeichnung „Der Blaue Reiter“ geht zurück auf den Titel eines Almanachs, einer Kunstzeitschrift mit vielen Abbildungen, in der auch neue Gedanken und Ideen über Kunst formuliert wurden.

Das Entstehen der Epoche hat auch mit dem Ort München und seinen spezifischen lokalen Bezügen zu tun. Alle Künstler wohnten in Schwabing. Viele Kinder kennen die Ainmillerstraße, in der Kandinsky, Münter und Marc wohnten, ebenso wie die Giselastraße, in der Jawlensky und Werefkin ihr zuhause hatten. Aus diesem Grund hieß die Gruppe zunächst „die Giselisten“. In den Jahren nach 1900 entwickelte sich München - insbesondere das Stadtviertel Schwabing - zu einer innovativen Metropole der Kunst und ließ sein Image als Provinzhauptstadt hinter sich. Malerfürsten wie Lenbach, Stuck oder Hildebrand residierten in ihren herrschaftlichen Villen, auch Schriftsteller wie Thomas Mann und Komiker wie Karl Valentin lebten hier. Ebenso hielt Rudolf Steiner zu dieser Zeit hier seine Kunstvorträge. In den Salons diskutierten die Künstler und feierten ausgiebige Feste. Heute zeigt das Lenbachhaus die Werke der Künstler des Blauen Reiters. Das Lenbachhaus gründet seinen Ruf als international bedeutendes Museum auf seiner einmaligen Sammlung von Werken des Blauen Reiters. Anlässlich ihres 80. Geburtstages schenkte Gabriele Münter ihre Kunstsammlung mit herausragenden Werken des Blauen Reiters, die sie vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten in ihrem Versteck in Murnau gerettet hatte, im Jahr 1957 an die Städtische Galerie. Damit gelangte diese vorher eher provinzielle Galerie mit einem Schlag zu Weltruhm.


„Ich habe dich gesucht und noch nicht gefunden,
 die Sehnsucht ist groß, doch find ich dich nicht.
Ich weiß, dass du da bist, doch seh ich dich niemals.
Wo und wann, das weiß ich nicht.
Ich werde dich finden, das weiß ich genau.
Auf die Frage wer ist er? Wie heißt er?
Das kann ich nicht sagen, weil ich es selber nicht weiß.
Doch würde ich gern wissen, wie er heißt.
Wie lang ich noch warte, ist nicht klar,
doch wenn du da bist, wäre es wunderbar."

In diesen Gedichten, die während der Exkursion entstanden, spiegelt sich deutlich wider, dass die Schüler in einer besonderen Situation sind, in einer Übergangsphase, in der eine Entwicklung zu Ende ist und die neue noch nicht vollends begonnen hat. Die besondere Situation der Siebtklässler ist, dass sie sich in der Phase der Vorpubertät befinden. Sie treten in ein neues Verhältnis zur Welt. Die unbeschwerte Phase der Kindheit geht zu Ende und gleichzeitig ist das Neue für sie noch nicht greifbar. Ein Moment der Sprachlosigkeit tritt auf seelischer und geistiger Ebene ein. Auch auf physischer Ebene macht sich diese Veränderung bemerkbar. Die körperlichen Auswirkungen zeigen sich oft in einem enormen Längenwachstum, Müdigkeit und dem großen Bedürfnis zum Chillen. Grundlegendes ändert sich mit der Fähigkeit, Distanz aufzubauen und die Rolle des Beobachters einnehmen zu können. Ein Verständnis von Ironie und das Begreifen von kausalen Zusammenhängen wird nun möglich. Auch erkennen sie die Möglichkeit selbst Prozesse zu gestalten.

Entsprechend dieser Entwicklungsstufe beschäftigen sich die Kinder unter dem Motto „Auf in eine neue Welt“ in der Geschichtsepoche nach dem Mittelalter mit der Neuzeit. Auch auf künstlerischer Ebene begeben sie sich mit dem Kennenlernen der expressionistischen Malerei auf Entdeckungsreise und brechen in neue Bilderwelten auf. Diese erwachenden Kräfte können in die positive oder negative Richtung driften. Findet ein Jugendlicher keine Anknüpfungspunkte in der Welt für seine Ideale, so kann diese Energie auch zu einer destruktiven Kraft werden.

In dieser sensiblen Phase liegt eine zentrale Aufgabe der Pädagogik darin, den Jugendlichen Anknüpfungspunkte zu geben. Die Kunstwerke des Blauen Reiters geben äußere Bilder, an denen sich die Pubertierenden orientieren können. Dieser künstlerische Ausdruck kann sowohl über Farben und Formen stattfinden oder über den sprachlich-poetischen Weg. Wenn Schüler über Kunstwerke zum Blauen Reiter schreiben, müssen sie sich nicht direkt mit sich selbst konfrontieren, sondern sie können über die Sprache der Kunst ausdrücken, was sie momentan beschäftigt, was sie möglicherweise nicht bewusst wahrnehmen, aber dennoch in ihrem Gefühlsleben vorhanden ist. Indem Sie über die Bilder schreiben, schreiben sie über sich selbst, was sie beschäftigt.


Kleiner Exkurs: Himmelskind und Erdenkind

Henning Köhler bezeichnet diese Phase zwischen dem 10. und 12. Lebensjahr als Schlüsselzeit, da sich in diesem Zeitraum vieles im Hinblick auf die Quelle innerer Kraft und innerer Gesundheit entscheidet. In diesem Zeitraum tritt die Kraft des „Eros“ erstmals in Erscheinung.1 Diese Überlegungen zur Kraft des „Eros“ basieren auf der Annahme, dass der Mensch sowohl in irdischen wie auch in himmlischen Wesensbereichen existiert, diese beiden Bereiche sind gleichsam nebeneinander. Die illustrativen Begriffe beschreiben den Menschen sowohl als „Himmelskind“ wie auch als „Erdenkind“. Aus anthroposophischer Perspektive ist der Mensch als Himmelskind zurückverbunden mit seinem vorgeburtlichen Wesen in der vorgeburtlichen Sphäre. Dieser Bereich ist vergleichbar mit einem Unschuldsraum, einem Bereich der Reinheit, der vollständigen Offenheit, Aufnahmebereitschaft, Arglosigkeit, Hingabefähigkeit und des Vertrauens. Bei der Fähigkeit sich mit der spirituellen Welt zu verbinden spricht Johannes Greiner vom inneren Kind, welches der Quell der Kreativität ist.2 Das Kindliche in uns ist die schöpferische und die erneuernde Kraft, die wiederum mit Phantasie- und Vorstellungsfähigkeit verknüpft ist. Es ist die Verbindung zu unserem Urquell und zu unserem Ursprung. Es ist das immerfort sich verändernde Werdende, das Unerwartete, die Initiativkraft. Es ist die Fähigkeit zu staunen, zu fragen und sich zu begeistern. Das innere Kind ist immer existent, jedoch kommt es in der Zeit der Kindheit besonders zum Ausdruck. Es ist eine Ebene des Menschseins, die in der Kindheit äußerlich gelebt wird, die aber als solche nie verloren geht, sondern der Mensch verliert den Zugang. Bei den Kindern ist die spirituelle Weisheit noch unbewusst vorhanden, sie wird genährt aus der kosmischen Verbindung. Die spirituelle Verbindung zum Kosmischen, die die Kinder noch haben, spiegelt sich im Künstlerischen in einer ursprünglichen Ausdruckskraft. Berühmt wurde Picassos Ausspruch, dass jedes Kind ein Künstler sei, diese intuitive Ausdruckskraft wird jedoch mit Eintreten in die Pubertät zurückgedrängt.

„Jedes Kind ist ein Künstler, das Problem ist nur, ein Künstler zu bleiben, während man erwachsen wird.“ (Picasso zitiert in Time Magazine 4.10.1976)

Das Erdenkind wiederum ist verbunden mit den Erdenverhältnissen, pragmatisch setzt es sich mit den harten Realitäten auseinander. Es ist kein unschuldiges und vertrauensvolles Wesen mehr. In dieser Existenzform gibt es Zweifel, Misstrauen und Einsamkeit. Köhler betont, dass für die Gesundheit des Erdenkindes das Himmelskind eine Quelle der Kraft ist, es kann auch als sein höheres Selbst, sein höheres „Ich“ bezeichnet werden.
 

Die Exkursion

Bild links: Gabriele Münter, Blick aufs Murnauer Moos 1908, Bild rechts: Malen im Murnauer Moos

Die Exkursion dauert drei Tage, diese sind abwechslungsreich gestaltet mit Museumsbesuchen, Malen, Gedichte schreiben und Wandern in der Natur. Grundlegende Ideen der Farbtheorien Kandinskys, die Farbsymbolik Franz Marcs und den Farbkreis mit den Komplementärkontrasten lernen die Kinder anfänglich kennen. Auch das Erzählen der Künstlerbiografien gibt den Schülern einen emotionalen Zugang zu den Persönlichkeiten und der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Nichtsdestotrotz steht für die Siebtklässler das Erleben der Farben im malerischen Prozess absolut im Vordergrund. Sie sollen ins Malen eintauchen. Ein emotionales, intuitives Vorgehen leitet den Zugang. Die Schüler in der siebten Klasse tauchen ohne tiefe rationale Durchdringung der künstlerischen Positionen des Blauen Reiters in das Tun ein. Dazu eignen sich besonders die frühen Werke des Blauen Reiters. Auch trägt das Wandern in der Natur und das Malen vor der Natur dazu bei. Dadurch eröffnet sich ein Themenraum über mehrere Tage und Nächte, in den die Schüler eintauchen ohne Ablenkungen, die ansonsten in unserem Alltag allgegenwärtig sind.

Das Thema der Abstraktion wird in der 11. Klasse thematisiert, wo sich die Schüler erneut mit dem Blauen Reiter, Kandinsky und seiner Farb- und Formenlehre beschäftigen werden. Während die Dreizehnjährigen über das Tun Zugang zur Farbe entwickeln, haben die Elftklässler in dieser Entwicklungsphase die nötige, geistige Reife für die Auseinandersetzung mit den Kunsttheorien. Vergleichbar einem Spiegel wird das gleiche Thema dann theoretischer betrachtet, wenn beispielsweise Kandinskys theoretische Überlegungen zu den Begriffen Impression, Improvisation und Komposition im Unterricht der elften Klasse behandelt wird.
 

Ölmalerei im Klassenzimmer

Malen der Ölbilder in den Klassenräumen der 7a und 7b.

Nach der Exkursion verwandelt sich das Klassenzimmer an zwei bis drei Tagen vormittags in ein Atelier. Die Vorbereitungen dazu müssen gut durchdacht und geplant sein.

Das großformatige Malen mit Ölfarben bietet den Kindern eine neue Qualität und intensiviert den malerischen Prozess. Sie erleben die Haptik und intensive Leuchtkraft der Farben. Ölmalerei ist technisch anspruchsvoll, gewisse Regeln der Handhabung müssen die Kinder lernen einzuhalten. Auf der Ebene der technischen Herausforderungen wird den Kindern somit deutlich, dass das künstlerische Tun nicht nur ein kreativer Impuls ist, sondern sowohl spezifische Materialeigenschaften eine Rolle spielen, aber auch handwerkliche Fähigkeiten gefordert sind.

Genaues Hinsehen und differenziertes Wahrnehmen zählen zu den grundlegenden Zielen der Epoche. Genaues Sehen war ein wiederkehrender Punkt beim Besprechen der Bilder. Diese Augenblicke, in denen sich die Kinder darum bemühen, Gegebenheiten in der Welt in ihrer Vielfalt zu sehen, tragen zum Ausbilden ihres ästhetischen Empfindens bei.

Hier zeigt sich eine augenscheinliche Parallele. In der körperlichen Entwicklung der Siebtklässler hat sich der Lungenbaum differenziert ausgebildet. Das Sensibilisieren für die Vielschichtigkeit der Erscheinungen und für genaues Wahrnehmen steht in Analogie zur Ausbildung der Atemreife. Die Atmung differenziert sich aus und die Empfindungsfähigkeit nimmt zu.

In ihrer bunten Unterschiedlichkeit können diese Bäume symbolisch sowohl für den ausdifferenzierten Lungenbaum stehen und spiegeln gleichzeitig ein reiches Innenleben der Kinder wider.

Gerade am Anfang der 7. Klasse ist das Zeitfenster noch offen, in dem die die Kinder aus dem Unmittelbaren schöpfen können, bevor mit zunehmender Pubertät die spontane Schaffenskraft von Vorstellungen überlagert wird und damit auch verloren geht. Insbesondere eine mehrtägige Exkursion ermöglicht damit den Kindern in dieser besonderen Phase intensiv und impulsiv in das künstlerische Arbeiten einzutauchen.

 

  1. Henning Köhler: Eros als Qualität des Verstehens – Über das erotische Erwachen im Jugendalter und den gemeinsamen Ursprung von Kreativität und Zärtlichkeit. Wangen/Allgäu: FIU Verlag, 2010, S. 20.
  2. Greiner, Johannes: Das innere Kind und der Quell der Kreativität. Hamburg, Edition Widar, 2019