Waldi2go - ein Experiment im echten Leben
Ein Beitrag von Sven Saar (Freie Waldorfschule Wahlwies)
In der sechsten Klasse sollen die Kinder lernen, wie man Gewinn-und Verlustrechnungen erstellt und einfache Buchhaltung betreibt. Das geht erfahrungsgemäß immer dann am besten, wenn man mit echtem Geld zu tun hat und so direkt wie möglich im praktischen Leben steht. Schon lange habe ich als Lehrer die Überzeugung, dass man zwölfjährigen Kindern eigentlich alles beibringen kann, was man will: Geschieht es auf die richtige Weise und vertraut man ihrer Kompetenz, werden sie die ihnen übertragenen Aufgaben gewissenhaft und verantwortungsvoll erledigen. In ihnen muss das Gefühl leben, dass ihre Aktivitäten sinnvoll und lohnenswert sind, dann werden sie sich auch anstrengen, neue Fähigkeiten zu erwerben. Oft nehmen wir unseren Kindern die Möglichkeit, auf diese Art in die Welt zu wachsen, weil wir (zu sehr) um ihre Sicherheit besorgt sind oder ihnen zu wenig zutrauen.
Als die Köchin der Wahlwieser Schule mit Bedauern erklärt, sie könne aus Zeitmangel keine belegten Pausenbrötchen mehr verkaufen, sehen wir unsere Gelegenheit: Wir gründen eine Firma!
Das haben schon viele Klassen durchexerziert, mit verschiedenen Projekten. Der Unterschied bei uns: Die Firma gehört uns allen gemeinsam, und Gewinn und Verlust liegen in unserem eigenen Risiko. Als Klassenlehrer bin ich in diesem Durchgang mit einer vertrauensvollen, abenteuerbereiten Elternschaft gesegnet, und so steht unserem Unterfangen keine einzige Vetostimme im Weg. Alle 32 Kinder und ich werden jeder 20 Euro als Startkapital investieren. Von diesem Geld müssen wir eine Küche finanzieren, Marktforschung und Werbung betreiben, die ersten Zutaten kaufen und eventuelle Verluste ausgleichen. Ob das reicht?
Während ein unternehmungslustiger, technisch inspirierter Junge es übernimmt, bei seiner örtlichen Schreinerei einen Verkaufsstand in Auftrag zu geben, ruft mich ein großzügiger Vater an, der das Projekt beeindruckend findet. Er kennt sich in der Branche aus und spendiert uns nagelneue Messer, Schneidebretter, Präsentierkörbe, Serviettenständer und und und ...
Einer der Eckpunkte ist, dass die Arbeit ohne zusätzlichen Elterneinsatz und parallel zum Hauptunterricht stattfinden muss: In der großen Pause müssen 40 lecker belegte, frische Brötchen verkaufsfertig sein. Das heißt, die Küche befindet sich in einer Ecke des Klassenzimmers neben der Tafel, alle Kinder bekommen eine Hygieneeinweisung und lernen zunächst einmal gemeinsam, was an Arbeitsbereichen anfällt und welche Kompetenzen gefragt sind. Eine Woche muss dafür reichen, danach geht es mit dem Verkauf los.
Was wollen die Kunden essen? Wie soll es präsentiert sein? Wie viele verschiedene Arten von Brötchen bieten wir an? Welchen Profit erwarten wir? Was passiert eigentlich mit dem Gewinn?
Täglich beschäftigen uns diese Planungsfragen, immer im Gesprächskreis und ohne wesentliche inhaltliche Vorgabe durch den Lehrer - dies ein weiterer Eckpunkt. Jetzt müssen wir auch festlegen, wer was macht. Wir identifizieren Einkauf, Zubereitung, Verkauf, Buchhaltung und Geschäftsführung als einzelne Arbeitsbereiche. Wer will sich wo engagieren? Oh - 13 Kinder wollen Geschäftsführer sein!
Hm - ob das geht? Nein, das geht natürlich nicht. Wir einigen uns auf vier Manager. Aber wie sollen wir diese bestimmen? Ein nachdenklicher Junge weiß schließlich die Antwort: „Alle, die sich für eine andere Aufgabe gemeldet haben, sollen die Geschäftsführer wählen!" Dieser Vorschlag findet Zustimmung, und schließlich sind alle Posten besetzt. Die Arbeit kann beginnen. Schon nach zwei Wochen beklagen die Geschäftsführer, dass sie eigentlich nicht genug zu tun haben und bitten um umfassendere Aufgaben. Also werden sie in die anderen Teams integriert, und jetzt beginnt der Laden richtig rund zu laufen.
Die fünf Schüler im Einkaufsteam gehen morgens auf dem Schulweg zum Bioladen im Dorf (alle unsere Produkte sind Bio und regional - noch ein Eckpunkt) und holen die Zutaten ab: 40 frische Brötchen und was noch so gebraucht wird: Salami, Mozzarella, Butter, Scheibenkäse, Frischkäse, Pesto etc. In der Klasse angekommen, werden die Sachen verstaut (wir haben natürlich einen großen Kühlschrank) und sie lassen sich von der Buchhaltung das Geld erstatten. Die vier Buchhalter müssen den Einkaufsbetrag eintragen, den Kassenzettel abheften, das Geld auszahlen und die Kasse für den Verkauf vorbereiten. Mittlerweile ist es zehn nach acht. Jetzt kommen auch die meisten Fahrschüler. Das heutige Zubereitungsteam ( es gibt vier Teams mit jeweils vier Kindern) bindet die Haare zurück, geht sich die Hände waschen, legt die Schürzen an. Alle halten einen Moment inne für Morgen- und Zeugnissprüche. Dann, während der Rest der Klasse singt, rezitiert oder Flöte spielt, organisiert sich das Küchenteam und beginnt zu arbeiten.
Unsere Firma heißt waldi2go. Jedes Brötchen ist ein Waldi, und es gibt sechs verschiedene Variationen: Meat Waldi mit Salami, Cheese Waldi mit Scheibenkäse, Waldi Italiano (unser Bestseller) mit Tomate, Mozzarella und Basilikum, Fresh Waldi mit Frischkäse und Kräutern, Fitness Waldi mit Eiern, Salat und Mayonnaise und schließlich Sweet Waldi mit Schoko und Banane. Alle diese müssen verlässlich zubereitet und appetitlich angerichtet werden. Je nach Temperamentslage des Zubereitungsteams dauert die Küchenarbeit zwischen 45 und 75 Minuten und muss so geräuschlos wie möglich stattfinden - schließlich ist man vorne im Blickfeld der Mitschüler und es findet Unterricht statt. Auch der Lehrer, der ja mitten in der Arbeit und im Fluss steht, darf eigentlich nicht unterbrochen werden. Das heiß, man muss alle eventuell auftretenden Probleme („Der Mozzarella ist alle." „Wir haben vergessen, Eier zu kochen." etc.) im Flüsterton und so selbständig wie möglich lösen. Oberstes Gebot ist immer Qualität und Hygiene. Unsere inzwischen zahlreichen Kunden erwarten pünktlich leckere Pausenwaldis!
Zehn Minuten vor der Pause ziehen sich die drei Kinder des Verkaufsteams (davon gibt es drei) ihre extra mit unserem Logo bedruckten T-Shirts an, waschen ihre Hände, ziehen den mit Rädern versehenen Verkaufsstand in den Pausenhof und bauen unser Display auf. Die Wechselkasse ist bereit, Plastikhandschuhe zum Servieren auch, die vorbestellten Waldis für Hausmeister, Sekretärin und Geschäftsführer beiseite gelegt und los geht's. Jeder Waldi kostet € 1,50. Das ist äußerst billig, wenn man die Kosten unserer Zutaten berechnet. Eine kleine Scheibe Bio-Salami kostet allein 13 Cent, und auf unserem Meat Waldi sind drei! Trotzdem gibt es einige Kunden, die es gern billiger hätten. Denen muss natürlich freundlich, aber bestimmt geantwortet werden. Schließlich sollen sie morgen wiederkommen. An den meisten Tagen sind alle Waldis in einer Viertelstunde verkauft. Sollte das mal nicht so sein, zieht das Verkaufsteam in der zweiten Pause mit unserem mobilen Verkaufstablett noch einmal los. Am Lehrerzimmer gibt es immer dankbare Käufer. Überhaupt gibt es im Kollegium viel Lob und Respekt für die Schüler. Das könnte ja auch anders sein. Schließlich beeinträchtigt diese Aktivität die Konzentration im Hauptunterricht, und das ein oder andere verpasst man auch mal ganz. Aber alle sind sich einig: Was hier gelernt wird, ist so vielschichtig und wertvoll, dass es das Verpasste mehr als ausgleicht. Als Klassenlehrer habe ich die Verantwortung, die Nebenwirkungen des Projekts so harmonisch wie möglich zu gestalten, und das gelingt mir dank hervorragender Kooperation von allen Seiten mit einem Minimum an Aufwand und Belastung.
Am Ende der Pause zählen die Buchhaltungskinder das Geld, tragen die Beträge in unser großes Buch ein und sorgen dafür, dass das Einkaufsteam gegebenenfalls genug Bares für den morgendlichen Einkauf hat. Die Zubereiter haben die Küche sauber und ordentlich hinterlassen, sodass für den Rest des Schultages der Unterricht ungestört ablaufen kann. An jedem Freitag ist Kassensturz: Was wurde eingenommen, was ausgegeben, wie ist unser Profit, was müssen wir besprechen? Gab es Konflikte unter uns, gab es Lob oder Kritik aus der Kundschaft? Müssen wir irgendwo etwas an unseren Abläufen verbessern? Im Kreis wird konstruktiv diskutiert, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, ich als Lehrer habe nur eine von 33 Stimmen.
Die Lehrer bestellen für jeden Donnerstagabend 30 Waldis als Verpflegung zur Konferenz. Schaffen wir das? Klar schaffen wir das! Wer bleibt Donnerstags länger und bereitet die Brötchen nach der Schule zu, damit sie abends so frisch wie möglich sind? Die Nachsitzer, die in der Woche mehrmals die Hausaufgaben vergessen haben. Und wenn es keine Nachsitzer gibt? Dann gibt es sicher genug Freiwillige! Und tatsächlich: es funktioniert! Die Schülerinnen und Schüler sind so begeistert und identifizieren sich so stark mit unserer Firma, dass es nie an willigen Helfern fehlt. Wer kann heute länger bleiben? Wer kann in der Pause schnell zum Laden gehen? Wer nimmt die Geschirrtücher mit nach Hause zum Waschen? Immer gibt es Kinder, die sich melden und ihre Aufgaben schnell und zuverlässig erledigen. Zwei Mädchen, die sich sonst gern mal beschweren und denen das soziale Miteinander nicht immer leicht fällt, tun sich besonders hervor: Jede von ihnen arbeitet freiwillig in zwei Teams und entwickelt ausgezeichnete Übersicht über die Belange der Firma als ganzes. Sie haben gute Ideen zur Verbesserung der Rezepte, Werbevorschläge und lieben es, mit Erwachsenen Verhandlungen zu führen. Nur arten diese jetzt nicht wie sonst in Streitereien aus, sondern - da sie ja unsere Firma vertreten - werden höflich und konstruktiv geführt.
Vor den Sommerferien ist längst klar: waldi2go ist ein großer Erfolg, und das auch finanziell. Klar: Durch unsere niedrigen Preise machen wir nur bescheidenen Gewinn. Aber: Die Schulgemeinschaft liebt unsere Waldis, der Dorfladen macht durch uns jede Woche über 300 Euro Umsatz, unsere Küche und alle anderen Investitionen sind abbezahlt - und es bleibt noch etwas übrig! Am Ende des Schuljahrs bekommen alle ihre Einlage und €15 Gewinn ausbezahlt. In der Kasse ist noch ein guter Grundstock für das nächste Schuljahr, und alle haben das Gefühl: Was wir uns hier erarbeiten, lässt sich eigentlich in Geldbeträgen gar nicht messen.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der Erziehungskunst.