Genaue Beobachtung als Entwicklungshelfer

Ein Beitrag von Ingo Schmeel (Lehrer an der Tübinger Freien Waldorfschule)

Das Schwarz-Weiß-Zeichnen in der sechsten Klasse

Unsere Gesellschaft ist heute in der Regel so eingerichtet, dass die Menschen Situationen schnell erfassen und bewerten müssen, damit sie so bald wie möglich ein Urteil fällen und danach handeln können. Arbeitszusammenhänge, in denen Langsamkeit geduldet oder gar geschätzt wird, sind selten geworden. Die meisten Kinder wachsen also in einem Zusammenhang auf, in dem sie Tempo und rasches Urteilen als eine positive Qualität erleben, und versuchen diese nachzuahmen, zu übernehmen. Dass aber auch die Gefahr von Oberflächlichkeit und undifferenziertem Urteilen in der Schnelligkeit begründet liegt, wird von den Kindern meist nicht wahrgenommen. Mit der Pubertät potenziert sich dieses Tempo noch, da die heranwachsenden Jugendlichen anfangen, ihr eigenes Urteilsvermögen zu entwickeln. Das wird dadurch geübt, dass man sehr schnell eine Meinung hat, die nicht selten nur den Gegenstandpunkt der elterlichen Meinung darstellt. Es ist meist noch keine gründlich überlegte, nach und nach gebildete Meinung, die den Widerspruch erzeugt, sondern allein der Widerspruchswunsch ist ausschlaggebend. Ein weiterer Beschleunigungsfaktor ist die aufwallende Gefühlswelt, die in ihrer Vehemenz meist nur sehr undifferenzierte Betrachtungen eines Problems zulässt. Diesem eigenen Gefühl wird ein hoher Grad an objektivem Wahrheitsgehalt zugesprochen und kaum ein Argument, und sei es noch so schlüssig, kann überzeugend dagegen wirken.

Die Aufgabe, die sich für Eltern und Lehrer daraus ergibt, ist die, den Jugendlichen zu helfen, ihr Denken mehr und mehr an tatsächlichen Realitäten auszurichten, ein oftmals langer und manchmal auch mühsamer Prozess. Der Lehrplan der Waldorfschule reagiert auf den Entwicklungsschritt der aufbrechenden Pubertät unter anderem mit dem Schwarz-Weiß-Zeichnen. Um zu erklären warum, ist es sinnvoll, erst einmal das konkrete Vorgehen zu erläutern.

Es gibt mehrere Ansätze, die Kinder an das Zeichnen von Schatten und Licht heranzuführen. Einen davon, mit dem ich gute Erfahrungen gemacht habe, möchte ich Ihnen hier vorstellen: Ein vierseitiger Kasten, der nach oben und vorne hin offen ist, ähnlich einer leeren und großen Puppenstube, ist die „Bühne", auf welche verschiedene Gegenstände (Kugel, Zylinder, Pyramide, Würfel, Quader, usw.) gestellt werden. Alle vier Flächen und Gegenstände sind in unterschiedlichen Grautönen gestrichen. Ein Spot beleuchtet jeweils die Gegenstände, sodass sie einen kontrastreichen Schlagschatten werfen, der möglichst vollständig im Innern des Kastens zu sehen ist.

Nun bekommen die Schülerinnen und Schüler ein Blatt Papier, welches auf einem Brett befestigt wurde, sodass es nicht verrutschen kann, und die Aufgabe, Zeichenkohle mit beiden Handflächen so auf dem Papier zu verteilen, dass ein mittleres Grau entsteht. Dann wird mit einem Knetgummiradierer dort Kohle weggenommen, wo die Grauwerte heller sind als das mittlere Grau und im umgekehrten Fall zusätzlich Kohle aufgetragen und verrieben. Nach und nach entsteht ein mehr oder weniger naturgetreues Abbild der Wirklichkeit. Wichtig ist dabei, dass nur aus der Fläche heraus gearbeitet wird und keine Umrisszeichnungen angefertigt werden: eine Herausforderung die vielen zunächst schwerfällt.

Ist die Rohfassung fertig, geht es an das genaue Prüfen der Grauwertverhältnisse. Da außer Grau, Weiß und Schwarz keine Farben im Spiel sind, ist es nicht allzu schwierig, zu richtigen Beurteilungen zu kommen, wenn man nur genau hinschaut. So können „Fehler" leicht korrigiert werden. Wird jedoch eine einzelne Fläche verändert, hat das Folgen für die anderen angrenzenden Flächen, da die Realität eben ein großer und differenzierter Zusammenhang ist, dessen Komplexität hier unmittelbar erlebbar wird.
Ganz nebenbei entsteht dann nur aus dem Erkennen und Umsetzen der jeweiligen Flächenformen eine dreidimensionale Zeichnung, ohne dass die Gesetzmäßigkeiten der Perspektive vorher auch nur erwähnt wurden. Die sind dann das Thema der siebten Klasse.

Wie hier zu sehen ist, korrigiert die Wirklichkeit von sich aus Entscheidungen, die meist aus dem Gefühl heraus getroffen wurden, und zwingt die Zeichnerinnen und Zeichner dazu, mit viel Zeit und Konzentration ganz genau zu beobachten. Nur selten kommt es vor, dass Schüler und Lehrer uneins sind, wenn es darum geht zu entscheiden, ob eine Fläche heller oder dunkler ist als eine andere. So führt die einfache Aufforderung, zwei Flächen noch einmal auf ihre Grauwerte hin zu prüfen in der Regel zu einer Selbstkorrektur an dem Gesehenen. Auf diese Weise bedarf es keiner langen, gefühlsaufwallenden Diskussionen, welche nur selten zu fruchtbaren Ergebnissen führen. Ein weiterer Vorteil ist das mit jedem neuen Bild sich kontinuierlich verlangsamende Tempo, mit dem beobachtet und gezeichnet wird, wenn sich die Schülerinnen und Schüler darauf einlassen. Diese Faktoren sind es, die zu mehr Entschleunigung und Besonnenheit im Denken und Entscheiden führen: eine segensreiche Hilfe in dieser krisengeschüttelten Entwicklungsphase.