Karthago

Von Otto Zierer aus dem "Bild der Jahrhunderte", 3. Band

Mit freundlicher Genehmigung von Anton Kammerl.

In der Großstadt Tarent liegt nun eine römische Besatzung, in den gewaltigen Befestigungen am Hafen und an der Landseite donnern die Mauerbrecher und Rammen und klirren die Spitzhacken der Arbeiter. Alle Mauern der Festung werden nach einem Befehl des Senats geschleift. Die Arsenale sind geräumt und die Waffenfabriken geschlossen. Das Schicksal der Einwohnerschaft ist trauriger als das der Söldner des Milon. Während diese freien Abzug erhalten, werden zahllose junge Tarentiner, die den römischen Herren brauchbar erscheinen, nach dem unmenschlichen Kriegsrecht der Zeit als Sklaven verschleppt.

Unter diesen Kriegsgefangenen, die den bitteren Marsch nach Rom antreten mussten, befand sich auch der damals vierzehnjährige Andronicus, Sohn eines wohlhabenden Hauses, der aufgeweckt und gebildet genug war, um das Furchtbare seines Schicksals, das ihn an barbarische Herren auslieferte, mit ganzer Wucht zu begreifen. Dabei traf es Andronicus nicht einmal am schlechtesten; denn durch seine klugen Antworten und wegen seine rasch erworbenen Sprachkenntnisse war er dem angesehen Patrizier Livius zugeteilt worden. Im Hause des Senators zu Rom machte sich der gewandte und gelehrige Grieche schnell als Erzieher und Lehrer der Kinder unentbehrlich.

Man gewährte ihm bald allerhand Freiheiten, er durfte allein in die Stadt gehen, sich mit Leidensgenossen treffen, Besuche empfangen und einen Teil des Tages für seine eigenen Liebhabereien benutzen. Alle hatten den lebhaften Jüngling gern, er wurde nach seinem Herrn meist Livius Andronicus genannt und galt, als er kaum das zwanzigste Jahr überschritten hatte, als einer der besten griechischen Hauslehrer und Erzieher. Die hellenischen Freunde unterhielt er mit anmutigen, leichten Versen, die er mühelos, manchmal aus dem Stegreif, dichtete; seine römischen Zöglinge aber bewunderten ihn wie einen Halbgott, seit er begonnen hatte, ihnen Homers Odyssee in die lateinische Sprache zu übertragen. Der Mühe der Übersetzung hatte er sich unterzogen, weil es kein Schulbuch und überhaupt kein Buch in diesem barbarischen Rom gab, das für den Unterricht geeignet gewesen wäre.

Der Pater familiaris - der gestrenge Hausvater Livius - war ihm ebenfalls wohlgesinnt und sprach gelegentlich von baldiger Freilassung. Andronicus wäre auch schon längst ein freier Marin geworden, wenn man ihn nicht so gut hätte als Dolmetsch gebrauchen können. Gerade jetzt, nach der vollzogenen Einigung Italiens, waren oft fremde Gesandte im Hause des Livius zu Gast, und meist verstanden sie nur die griechische Sprache. In den letzten Wochen war bei Verhandlungen und in vertraulichen Gesprächen immer wieder der Name Karthago genannt worden. Andronicus, der ein wenig von den politischen Ereignissen der Welt verstand, spürte, dass Unruhe in der Luft lag und dass Rom sich offenbar bereit machte, entscheidende Schritte zu tun.

Die Empörung gegen Karthago war in stetem Wachsen. Man warf ihm den missglückten Handstreich gegen Tarent vor und betrachtete seine diplomatische Geschäftigkeit mit steigendem Misstrauen.

Vor allem wühlten die Agenten der afrikanischen Handelsmetropole in Messina, und viel Geld floss in die Taschen der Mamertiner, um sie für ein Bündnis mit Karthago zu gewinnen. Messina war in Gefahr, karthagisch zu werden! Die Festung lag nur fünf Stadien vom süditalischen Ufer entfernt. Eine landfremde Großmacht in dieser Stadt, dicht vor der Türschwelle Italiens, war für die Römer untragbar und unannehmbar.

An einem der Tage, als die Zuspitzung der politischen Verhältnisse die erhöhte Wachsamkeit jedes römischen Politikers fordert, sitzen im Hause des Livius zwölf Senatoren auf den niederen Holzschemeln, die rings um die geschwärzten Wände des Atriums stehen. Es ist Nachmittag. Auf dem steingemauerten, großen Herde flackert das Holzfeuer, durch das offene Dach fällt das breite Lichtband der Sonne. Livius, der Hausherr, hat soeben den Griechen Andronicus zu sich befohlen und reicht dem eintretenden Sklaven einen entrollten Brief.

»Übersetze diesen Brief«, sagt er und übergibt dem Dolmetsch den Papyrus. Dann wendet er sich an zwei Schnellschreiber, Sklaven, die mit Wachstäfelchen und Stilus am Boden kauern: »Und ihr schreibt mit!«

Andronicus überfliegt den Briefkopf. Absender des Schreibens ist Timaios von Tauromenium, der als Privatgelehrter in Athen lebt. Der Grieche kennt den Namen des berühmten Historikers. Er weiß, dass Timaios als Kenner der politischen Verhältnisse Italiens, Griechenlands und Karthagos gilt.

So aber lautet das Schreiben:
»Timaios aus Athen grüßt Livius!
Dem mir vorgetragenen Wunsche entsprechend, habe ich mich bemüht, euch eine kurze Darstellung der Herkunft und des Charakters der Karthager zu geben. Die Karthager sind Angehörige des Volkes der Phöniker, manche nennen sie auch »Punier«. Man glaubt, dass noch vor dem Trojanischen Krieg - als die Achaier mit den Königen von Kreta im Streit lagen - die Phöniker zur Macht kamen. Damals stand die Welt ihrem Zugriff offen. In kurzer Zeit spannten sie ein Netz von geschützten Niederlassungen über die Küsten des Meeres.

Wo heute das Reich Syrien mit Antiochia blüht und die immer noch gewaltige Seestadt Tyrus liegt, herrschten vorzeiten drei Phönikerstädte: Tyrus, Sidon und Byblos. Auf ihren Marktplätzen übernahmen die Karawanen aus Innerasien die Waren des Westens und tauschten dagegen die Reichtümer des Ostens ein. Die Kaufleute der Städte aber fanden als geschickte Vermittler und Händler jene Form des Lebens, die ihnen zusagte:

>Die Freiheit lockt sie nicht, es gelüstete sie nicht nach Herrschaft. Ruhig und sicher lebten sie nach Weise der Sidonier im Besitze von Reichtum.<

Durch die Phönikerstädte Syriens wurde jenes Kolonialreich gegründet, das später zur Sorge der Hellenen und heute zum Gegner Roms geworden ist.
Dabei muss um der Wahrheit willen gesagt werden, dass es keineswegs die Art der Phöniker ist, anzugreifen, Völker zu unterwerfen oder überhaupt Machtgebäude aufzurichten. Ihnen kommt es nur auf den Gewinn, auf die Ausplünderung der Reichtümer eines Landes und die Beherrschung der Märkte an. Ihre Niederlassungen und Stapelplätze entlang der afrikanischen und spanischen Küste, auf Zypern, Sizilien, Sardinien und den Balearen sind nur für heute, und morgen erbaut; übermorgen können sie bereits an andere, günstigere Plätze verlegt werden. Trotz ihrer unbestreitbaren Machtmittel haben sich die phönikischen Siedlungen oft der Oberhoheit eines Barbarenhäuptlings oder Wüstenscheichs gebeugt und um des Friedens willen Bodenzins gezahlt. Sie sind stets bemüht, Streitfälle möglichst ohne Kampf durch Geld und Verhandlungen zu schlichten. Denn in jedem Krieg ist der Händler stets der Verlierende.

Die Städte, Siedlungen und Kolonien halten fest zusammen. Seit vielen Jahrhunderten entrichten selbst großgewordene und zu Weltstädten erblühte Tochtersiedlungen ihren Zins an die Tempel der alten Mutterstädte. Karthago verehrt noch heute das Heiligtum des Gottes Melkart in Tyrus und sendet ihm reiche Opfer; Karthagos Erfolge werden in Tyrus wie eigene empfunden. Tyrus hat einem griechischen Feldherrn in karthagischen Diensten ein Denkmal errichtet, weil er die Sache der Phöniker siegreich geführt hat.

Die Kolonialstädte, die der drückenden Oberherrschaft der asiatischen Könige, dem wirren und zerstörerischen Gang der orientalischen Geschichte entrückt sind, wachsen besonders kräftig empor. Auf Sizilien sind es die drei Festungen Drepana, Lilybäum und Panormus, an der Südspitze Spaniens Gades und am afrikanischen Ufer das ältere Utica und die jüngere >Neustadt< - Karchedon oder Karthago. Heute hat Karthago, auf das sich die Blicke der Hellenen und Römer richten, alle anderen Phönikerplätze überflügelt und ist zur Weltstadt geworden. Seit Alexander die östliche Mutterstadt Tyrus mit stürmender Hand nahm, hat die >Neustadt< im Westen die Führung der Phöniker übernommen. Zahlreiche der vornehmsten und reichsten Geschlechter von Tyrus flüchteten damals zu Schiff mit ihren Schätzen in das sichere Karthago und machten es noch wohlhabender, als es zuvor war.

Erlaubt mir, ein Wort des Philosophen Kleanthes einzufügen: >Der Reichtum an Gütern verdirbt die Seele, wenn er nicht ausgeglichen wird durch das Bewusstsein, dass Besitz nur Leihgabe der Götter bedeutet.< Diese Warnung des Weisen gilt für Karthago; denn der steigende, maßlose Wohlstand der Stadt hat ihren Charakter sehr verändert. Das, was ich vorhin von der Friedensliebe, der Nachgiebigkeit und der Unterwürfigkeit der Phöniker sagte, ist für die Karthager unserer Tage nicht mehr gültig.

Zuerst bezahlten sie den libyschen Nomaden, den Numidiern, Zins für den Boden, auf dem sie sich angebaut hatten. Als sie aber so mächtig und reich waren, dass sie die Überlegenheit der Waffen auf ihrer Seite wussten, sprachen sie: Das Alphabet, der Purpur, das Glas und das Färben der Stoffe sind Erfindungen Phönikiens, die wir euch Wilden ins Land getragen haben. Darum ist es recht, dass wir herrschen und ihr zahlt!

Heute ist ganz Libyen karthagisches Hoheitsgebiet. Den Eingeborenen, vor allem den Bauern Libyphönikiens - einer fruchtbaren Landschaft zwischen Küste und Wüste -, wurden die Äcker genommen und sie selbst zu Pächtern oder Landarbeitern auf schnell geschaffenen Großgütern heruntergedrückt; denn die Menschen der enteigneten Kleinbetriebe waren sehr notwendig für den Betrieb der zusammengefassten Ländereien. Viele der kleineren Städte begaben sich anfangs freiwillig unter den Schutz der mächtigen Seestadt, um gegen die räuberischen Wüstenstämme gesichert zu sein.

Aber Karthago verlangte von seinen Schützlingen, dass sie die Mauern niederlegten und damit für immer auf ihre Freiheit verzichteten. Auch mussten sie Mannschaften für das gemeinsame Heer stellen und Tribut für die Staatskasse leisten, und zwar in immer steigendem Umfang. Die libysche Kleinstadt Leptis bezahlt allein jährlich 465 Talente.

Hart liegt die Faust der Handelsherren auf dem Land. Wo die Bauern nicht zu Knechten wurden und ihren Besitz behielten, sind sie fast alle durch Verschuldung zu Sklaven geworden. Umfangreiche Sklavenjagden im Landesinnern, Aufkauf von Arbeitern auf fremden Märkten - wir sehen die gesalbten Herren aus Karthago regelmäßig hier in Delos, wenn die großen Märkte mit gefangenen Galliern und Skythen stattfinden - und Zwangs-siedlung von Kriegsgefangenen haben die endlosen Plantagenstrecken mit weiteren billigsten Arbeitskräften gefüllt. Über Libyphönikien lastet Schweigen, hier gibt es kein anderes Recht als das des Besitzes. Wie mir ein Gewährsmann erzählt, schwirren im Lande der blühenden Obstgärten und der wogenden, goldbraunen Weizenfelder erbarmungslos die Peitschen über gekrümmten Rücken. Überall sieht man aneinandergekettete Reihen von Sklaven, hinter denen die Aufseher mit spitzen Stacheln herschreiten, um sie zu rascherer Arbeit unter der glühenden Sonne anzutreiben.

Der Hass der unterdrückten und um ihre Freiheit betrogenen Bevölkerung ist grenzenlos. Damit ist in unmittelbarer Nähe der stolzen Stadt ein gefährlicher Brandstoff angehäuft, der nur des Funkens bedarf, um aufzuflammen. Das große Netz karthagischer Plätze wird neuerdings mit sorgfältiger Planung von den großen Häusern der afrikanischen Metropole aus geknüpft. Be-herrschung und Nutzbarmachung der Wirtschaft des gesamten westlichen Mittelmeergebietes ist das große Ziel der karthagischen Kolonisation geworden. Wo Bergwerke, Bodenschätze, Wälder und fruchtbare Landstriche ein reiches Geschäft versprechen, erheben sich karthagische Forts. Sie dienen den phönikischen Aufkäufern und Schiffern als Stützpunkte und zwingen die Eingeborenen dieser Gebiete, ihre Erzeugnisse an keinen anderen Händler zu verkaufen.

Es ist kaum ein Menschenalter her, dass von Karthago eines der größten Kolonialunternehmen, ein Eroberungszug, nach Westen ausgriff. Der karthagische General Hanno führte 30.000 Auswanderer durch Afrika zur Küste des Ozeans und gründete dort, angesichts der Unendlichkeit des Meeres, Faktoreien und bewaffnete Schutzburgen. Dunkle und unbestätigte Gerüchte sprechen sogar davon, dass eine karthagische Flotte bis zu den >Inseln der Seligen< vorgestoßen sei.

Wie wir Hellenen, die Nachfahren des Miltiades, Themistokles und Kimon, über dieses Händlervolk denken, das sich in der Stunde unserer größten Not - zur Zeit der Perserkriege - auf die Seite unserer Feinde geschlagen hat und seit Menschengedenken der neid- und hasserfüllte Rivale des Hellenentums auf allen Weltmärkten ist, das brauche ich euch nicht zu berichten. Karthago war es, das die jonische Kolonie Massalia beinahe erstickt hat, das die Niederlassung der kleinasiatischen Phokäer auf der Insel Korsika mit Waffengewalt verhinderte. Karthago stand am Tage der Schlacht von Salamis bei Himera mit einem Riesenheer gegen die Griechen Siziliens im Feld, und karthagische Politik war es, die uns den Westen, Nordafrika, Spanien und die Balearen verschloss. Ich selbst stamme aus Sizilien und habe den Karthagerhass an der Quelle getrunken; denn Sizilien war immer das erste Schlachtfeld zwischen Afrika und Europa, Hellas und Karthago.

Als damals Persiens Übermacht Hellas zu vernichten drohte, kämpfte im Westen noch ein zweites Land gegen die Griechen, um ihre Handelsschiffe vom Meer zu verdrängen: Etrurien. Wir aber fanden Helfer in den tapferen Römern, die sich von der Herrschaft etruskischer Könige befreiten und durch ihren Kampf die Zahl unserer Gegner verminderten. Das ist lange her, aber es ist unvergessen. Das in einer gemeinsamen Sache vergossene Blut verbindet.

Euch, ihr Römer, aber muss ich auch an jenen schmählichen Vertrag erinnern, den später Karthago mit euren Vorvätern schloss. Da hieß es:
>Die Römer und ihre Bundesgenossen sollen niemals über das »Schöne Vorgebirge« hinausfahren, es sei denn, sie werden durch Stürme oder feindliche Bedrohung hierzu gezwungen. Wenn aber jemand gegen seinen Willen zur Landung veranlasst wird, so darf er nichts käuflich erwerben, außer er benötigt es zur Ausbesserung seines Fahrzeuges oder zu Opfern an den Altären der Götter, auch darf der Aufenthalt nicht länger als fünf Tage dauern.<

So waren auch euch Römern die nordafrikanischen Küsten verschlossen, ihr durftet Mauretanien und Spanien nicht betreten, euer Handel in Sardinien und im Haupthafen Karthago war unter die Kontrolle staatlicher Behörden gestellt. Einzig die Häfen Siziliens konnten eure Schiffe anlaufen.

>Jeder Schiffer aber, der nach Sardinien oder nach der Straße von Gades fährt, wird - wenn er den Karthagern in die Hände fällt -erbarmungslos ins Meer gestürzt.<«

Der Senator Gajus Duilius erhebt sich.
»Ist das wahr, was der Sklave liest«, fragte er, »ist alles wahr, was der Grieche schreibt?«
»Es ist wahr«, bestätigt der Hausherr, »Übersetzer wie Gewährsmann sind zuverlässig.«
»Dieser Vertrag mit Karthago bestand«, wirft Atilius Regulus kühl ein, »er wurde meines Wissens bei der Zerstörung der Stadt durch die Gallier vernichtet, aber es sind Auszüge erhalten, die im Saturntempel aufbewahrt werden. Ich selbst habe sie gelesen.«
»Aede Pol! Aede Castor!« ruft Altkonsul Gnäus Cornelius, »wir haben immer von der sprichwörtlichen Untreue der Punier geredet, aber nun ist es an der Zeit, auch von ihrer Unverschämtheit zu sprechen. Wie? Sie hätten es wirklich gewagt, Rom derartige Bedingungen aufzuerlegen?«

»Und diese Bedingungen sind sogar heute noch gültig«, sagt «er gesetzeskundige Atilius Regulus. »Sie sind im Schutz- und Trutzvertrag, der nach der Schlacht von Asculum geschlossen wurde, erneuert und bestätigt worden. Unsere wenigen Schiffe haben im gesamten karthagischen Bereich nur das Recht, die Mutterstadt selbst oder die sizilianischen Häfen anzulaufen. Dort und in gewissen sardinischen Freihäfen dürfen sie unter Aufsicht staatlicher karthagischer Beamter Handel treiben.«

»Und sie dürfen unsere Seeleute töten, ertränken, wenn sie westlich des >Schönen Vorgebirges< aufgegriffen werden?«
»So ist es!«

Unwilliges Murren geht durch das Atrium.
»Wie stark ist Karthago eigentlich?« fragt Gajus Duilius. »Wie viele Legionen kann es auf die Beine stellen? Darüber schreibt dieser geschwätzige Hellene kein Wort!«

Atilius Regulus gibt ihm Antwort.
»Wie stark auch das Heer dieses Krämervolkes sein mag, so wird doch keine Zahl etwas über seine wirkliche Macht aussagen. Wir haben von der >punischen Untreue< gesprochen - nun, sie hat sich stets und in erster Linie gegen die Soldaten Karthagos selbst gerichtet, vor allem gegen die ausgedienten Veteranen. Dafür zeugen die immer wiederkehrenden Söldneraufstände. Ich beobachte diese Vorgänge seit Jahren und weiß, dass Karthago auch den Krieg - wie alles im Leben - als Geschäft betrachtet. Hat man sich in der Byrsa Karthagos entschlossen, fremde Reichtümer, Handelsplätze oder Absatzgebiete mit Gewalt zu gewinnen, so nimmt man Söldnerführer von der Art eines Pyrrhus in Dienst und schließt mit ihnen Verträge ab, die Karthago zur Lieferung von Waffen, Schiffen und Geld, den Feldherrn aber zu entsprechenden Siegen und Eroberungen verpflichten. Aus diesem Grunde gibt es in Karthago auch immer wieder Prozesse, in denen unterlegene Feldherren abgeurteilt und hingerichtet werden. Die Karthager selbst aber haben weder den Willen noch den Mut, für ihren Staat zu kämpfen. Luxus und Reichtum haben sie bequem gemacht. Nach meinen Erkundigungen standen während der letzten sizilischen Kämpfe nur 2500 Karthager - die sogenannte >Heilige Schar< - im Felde; alle anderen waren geworbene Landsknechte.«

»Beim Schilde des Mars«, ruft Gnäus Cornelius, »was wollen diese bemalten Fettklöße und Hasenherzen gegen unsere Legionen ausrichten?! Hat nicht das letzte römische Lustrum eine Kopfzahl von 282.234 Bürgern ergeben? Genügt nicht ein Aufruf des Senats, um die Milizen unter den Adlern zu sammeln und die Bundesgenossen marschieren zu lassen?«

»Langsam, ihr Väter«, mahnt Livius, »vergesst nicht, dass auch Geld eine Macht ist, dass ein Großstaat wie Karthago im Handumdrehen Soldaten genug hat, um einen Krieg mit der ganzen Welt zu führen! Zudem liegt es auf der anderen Seite des Meeres, unerreichbar und unangreifbar für ein Volk ohne Seemacht. Unsere Soldaten werden die Mauern von Karthago nicht einmal zu sehen bekommen!«
»Es ist angreifbar«, unterbricht Regulus den Hausherrn. »Vor einem Menschenalter zeigte Agathokles, der Tyrann von Syrakus, die Stelle, an der Karthago verwundbar ist. Er führte auf Schiffen sein Heer nach Afrika hinüber und entflammte den Aufstand in ganz Libyen.«

Altkonsul Valerius Laevinius, der schwer an der Last seiner Jahre trägt, hebt die Hand. Ehrfürchtig schweigen die anderen und hören aufmerksam auf die Worte des Greises.

»Unterschätzen wir nicht den Gegner von morgen; jedes Volk hat Händler und Helden. Man hat mir gesagt, dass Karthagos Entschlossenheit sich in Notzeiten schon oft bewährt habe; es vertraue fast fanatisch auf seine Götter. Als das Heer des Agathokles vor den Mauern Karthagos stand, raffte sich die Bürgerschaft zu jener grausigen Tat auf, die das Entsetzen aller hervor-rief. Zweihundert Kinder aus den vornehmsten Häusern wurden als Opfer auf den Altar barbarischer Götter gelegt. Das riesige Erzbild des Esmun, das im großen Porphyrsaale der Burg thront, wurde zur Weißglut erhitzt, und die Priester warfen die Kinder, um die Götter den eigenen Waffen geneigt zu machen, vor den Augen der Eltern in den feurigen Schlund. Alle Welt kennt die Opfertat eines karthagischen Feldherrn, der sich selbst in die Flammen des Scheiterhaufens stürzte, weil die Götter das Brandopfer von vierhundert heiligen Tieren zu verschmähen schienen, ein Staat, dessen Männer solcher Hingabe fähig sind, ist nicht schwach und feige.«

Die Senatoren sind nachdenklich geworden. Livius ist es, der das Schweigen unterbricht.
»Wir haben«, sagt er, »von unseren hellenischen Schutzbefohlenen Auskünfte aller Art eingeholt und unter anderem auch die berühmteste wissenschaftliche Schule der Welt - das Museion von Alexandria - befragt. Hier ist die Antwort.«

Stockend, manchmal nach den richtigen Worten und Ausdrücken suchend, übersetzt Livius Andronicus den Brief des Griechen Kallimachos aus Alexandrien:

»Obschon durch meine wissenschaftlichen und poetischen Arbeiten überlastet, komme ich doch eurem Wunsche nach und übermittle euch das gewünschte Gutachten des Museion über die karthagische Verfassung.

Der Aufbau dieses Staates ist demokratisch-aristokratisch, ein wohlausgewogenes Gemisch aus beiden Staatsformen. Die freie Bürgerschaft wählt sowohl aus den vornehmen Geschlechtern wie aus den übrigen Familien eine oberste Behörde, >Gerusia< oder >Hoher Rat< genannt. Die 104 Mitglieder überwachen die Durchführung der Staatsgesetze und schlagen der Volksversammlung Verbesserungen vor. Die Gerusia ernennt jährlich zwei >Sufeten<, die ähnlich wie die römischen Konsuln Vollzugsorgane des Staates sind.

Der Charakter des Staates ist bürgerlich und nicht militärisch wie etwa in Sparta. Dem Bürger sollen gute Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten geboten werden. Wer aus alter und angesehener Familie stammt, darf damit rechnen, in Kolonien entsandt oder mit Staatsaufträgen bedacht zu werden, wobei er immer Gelegenheit findet, Schätze zu sammeln.

Da der karthagische Staat keinen größeren Beamtenapparat kennt, wird die Besteuerung der unterworfenen Völker und Städte an private Unternehmer verpachtet; auch den karthagischen Heeren folgt stets eine Schar von Aufkäufern, Verwaltern und Finanzleuten, die sogleich die Früchte des Sieges ernten und die besetzten Provinzen nutzbar machen. Gewinn und ungestörter Handel sind gleichsam die Staatsgrundgedanken und die Funda-mente, auf denen diese Verfassung erbaut ist.

Der Altmeister der politischen Wissenschaft, Aristoteles, der die meisten Staatsverfassungen seiner Zeit miteinander verglichen hat, stellte die karthagische der kretischen und spartanischen gleich und bezeichnete sie als >sehr gut<; und Isokrates, der zur selben Zeit wie Aristoteles gelebt hat, meinte:
>Karthager und Spartaner sind die Völker, die sich vor allen anderen durch die besten Verfassungen auszeichnen.<«

Ausführlich schildert Kallimachos dann die Abgrenzung und die Aufgaben der karthagischen Staatsämter und verliert sich in weitschweifigen theoretischen Erörterungen. Aber niemand hört mehr zu. In Gruppen stehen die Senatoren zusammen und besprechen die Folgerungen, die sich für Rom aus dem immer gefährlicher werdenden Anwachsen der karthagischen Machtfülle zwangsläufig ergeben.

Livius gibt dem Dolmetscher ein Zeichen, die Verlesung zu beenden. Herrisch befiehlt er dem Sklaven, sich zu entfernen.

»Freunde«, ruft er dann in das Atrium, »setzen wir uns zusammen, damit wir gemeinsam erkennen, was Rom zu tun hat, um klüger, reicher und mächtiger zu sein als Karthago. Lasst uns beraten, Senatoren ...!«