Gibt es eine neue Heimat, wenn die alte vorüber geht?
Ein Beitrag von Lothar Störmer (Freie Waldorfschule Bremen Touler Straße)
Geschichtsepochen in der 6. Klasse
Im 12. Lebensjahr machen die Jugendlichen eine einschneidende Erfahrung. Sie fühlen sich fremd im eigenen Leibeshaus. Die seelische Entwicklung hält nicht mehr Schritt mit der körperlichen, und so entsteht das Lebensgefühl, in sich selbst nicht mehr zuhause zu sein. Dies ist die endgültige Vertreibung aus dem Paradies. Konstitutionelle Schwächen, mit denen der Einzelne aufgewachsen ist und die im Laufe der Entwicklung nach und nach überwunden wurden, brechen erneut auf. Für Eltern wie alle übrigen Erzieher ist es ganz wichtig, in dieser Zeit innerlich ganz nah an den Kindern zu sein, ohne zu klammern; ganz wach und aufmerksam zu sein, ohne dass dies sichtbar wird.
1. Epoche
Eine Antwort des Lehrplans auf diese Entwicklung ist die Epoche „Römische Geschichte". Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit finden die Verfemten, Verbannten und Ausgestoßenen eine neue Heimat, die sie unabhängig von ihrer alten Stammeszugehörigkeit begründen. Während bis dahin die Verstoßenen des Stammes elendig in der Fremde zugrunde gingen, bilden sie in Rom eine Gemeinschaft, die unverbrüchlich ist und die sie mit Zähnen und Klauen verteidigen, denn sie haben nur diese. Das innere Band dieser Gemeinschaft sind Recht und Gesetz, die römische Verfassung. Nicht weil es sie einfach gibt, sondern weil die Bürger Recht und Gesetz liebten, wie Cicero sagt. Warum liebten sie Recht und Gesetz? Weil es ihnen nach innen Sicherheit und Frieden garantierte. Die nach langer gesellschaftlicher Auseinandersetzung zwischen Patriziern und Plebejern gefundene Regelung der Volkstribune als Anwälte der Plebejer, die unverletzlich sind, stärkt die Gemeinschaft zusätzlich in ihrem Innern.
Die Jugendlichen können sich in dieser Epoche ein Stück weit in ihrer eigenen Entwicklung wiederentdecken. Auch sie suchen eine neue Heimat. Auch für sie treten im Zusammenleben mit Eltern und anderen Erwachsenen an die Stelle von Verboten die Vereinbarungen und Abmachungen.
2. Epoche
Die zweite Geschichtsepoche dieses Schuljahres ist auf andere Art auch ein Spiegelbild der seelischen Verfassung der Heranwachsenden. Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches beherrschen Räuberbanden und desertierte Soldatenhorden Mitteleuropa, das Leben ist außerordentlich unsicher. Stätten der Sicherheit in dieser Zeit sind die Klöster, hinter deren Mauern Friede und Sicherheit herrschen; sind die Burgen, hinter deren Mauern sich die Bauern zurückziehen können; sind die Städte, in denen die Bürger (kommt von Burg) geschützt sind und von ihrem Lehnsherrn nach einem Jahr und einem Tag nicht mehr zurückgefordert werden dürfen (Stadtluft macht frei). So wie die Menschen dieser Zeit, des Mittelalters, einen geschützten Raum suchten, so suchen die Jugendlichen ihren eigenen seelischen Innenraum zu schützen und können in den Bildern der Geschichte sich selbst wiedererkennen.
Bild aus einem Epochenheft.
Neue Fähigkeiten
Die andere Seite der Entwicklung im 12. Lebensjahr ist nicht Verlust, sondern sind neue Fähigkeiten. Erst jetzt sind die Grundlagen gegeben, größere Zusammenhänge zu erkennen und logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Die neue Gehirnforschung drückt es so aus, dass ein Gebiet des Gehirns, das bis dahin nicht aktiv war, frei gegeben wird. Und diese neu beginnende Fähigkeit greift der Lehrplan des 6. Schuljahres vielfach auf.
In der ersten Geometrieepoche, mit dem Dreisatz, der Himmelskunde und auch in der Geschichte. So müssen die Schüler eigenständig nachvollziehen, wie die römischen Tugenden zwar ein Weltreich erschaffen, dieses Weltreich aber die römischen Tugenden zugrunde richtet. Dazu gehören viele Faktoren, die ineinander greifen: der billige Weizen aus den Kolonien und die billige Arbeit von Sklaven auf den Plantagen der Patrizier, die zu Großgrundbesitzern werden, was die Bauern arbeitslos macht und sie keine neue Arbeit bei den Großgrundbesitzern finden lässt; die billige Sklavenarbeit in der Herstellung von Gebrauchsgütern, was die Handwerker arbeitslos macht, so dass ein städtisches Proletariat entsteht. Schließlich die Entstehung von unglaublichem Luxus durch das System der Steuerpächter, die viel Geld vorauslagen müssen, um eine Provinz zu bekommen, diese dann erbarmungslos auspressen und damit in Rom Paläste und Luxusbäder bauen lassen, während die Straßen der Innenstadt mit Marmor gepflastert und deren Bürgersteige überdacht werden. Und letztendlich: Die arbeitslosen Massen werden mit Brot und Spielen ruhig gestellt, ihre Stimmen für die Volksversammlung werden gekauft.
In der Himmelskunde ist eher die konkrete Phantasie, die Bildung innerer Vorstellungen gefordert. So haben wir u.a. folgende Fragestellungen durchdacht: Wo steht der Polarstern am Nordpol, wenn er uns immer die Nordrichtung anzeigt? Wo steht er am Äquator? Wenn alle Sterne sich um den Polarstern drehen, wie bewegen sie sich am Pol, wie bei uns und wie am Äquator? Wie kommt es, dass die Sternbilder nach einem Monat zur selben Zeit schon höher am Himmel bzw. weiter westlich stehen? Oder in Bezug auf den Mond fragten wir uns, warum wir ihn einmal ganz, einmal gar nicht und dazwischen in allen Varianten des Ab- und Zunehmens am Himmel finden? Das war anstrengend, aber auch eine Lust, zu entdecken, dass diese Fähigkeiten da sind und wachsen.