Gesichtspunkte zur Römischen Epoche

«Da war sich der Mensch soweit seiner eigenen Persönlichkeit bewusst, dass er sich erst als ein eigentlicher Staatsbürger fühlte. Noch im Griechentum fühlte sich der einzelne Mensch als ein Glied des ganzen Stadt-Staates. Wichtiger war es, Athener zu sein, als ein einzelner Mensch. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man sagt: als: , weist man darauf hin, dass man als einzelner Mensch, als Bürger des Staates einen Wert, einen Willen hat. Da würde man auch nachweisen können, dass z. B. die Entstehung des Begriffes erst in dieser Zeitepoche möglich geworden ist; denn das ist ein römischer Begriff. Erst da hatte der Mensch seinen Willen so persönlich gemacht, so individualisiert, dass er auch noch über den Tod hinaus mit seinem Willen wirken wollte.»

Rudolf Steiner

 

«Der Römer dagegen erscheint uns ganz auf den Mittelpunkt seiner eigenen Persönlichkeit gestellt. Daher tritt etwas ganz Bestimmtes vor allen Dingen im Römertum auf, das ist der Begriff des bürgerlichen Rechts ... Im alten Rom lernt der Mensch sich als Einzelmensch fühlen, er steht auf seinen zwei Füßen nicht mehr als Angehöriger einer Stadt, sondern als römischer Bürger da; das heißt, er fühlt sich auf den Punkt seiner eigenen Menschlichkeit gestellt. Damit ist die Zeit gekommen, in welcher das Geistige, das vorher sozusagen wie in höheren Regionen schwebend empfunden wurde, heruntergestiegen ist bis auf unsere Erde . . . Der Grieche blickt zunächst nicht auf sich, er blickt zu etwas über ihm hinauf, der Römer blickt zuerst auf sich.»

Rudolf Steiner

 

«Im alten Rom wird das Gemeinwesen nicht mehr aus alter theokratischer, überpersönlicher Priester- und Sternenweisheit gelenkt, da ist es nicht mehr nur eine Angelegenheit, die aus dem Verborgenen der Mysterien heraus gehandhabt wird, sondern öffentliche Angelegenheit, res publica, Republik, die jeden «Bürger» angeht, an der jeder Bürger Anteil nehmen kann und auf die er - z. B. durch das Stimmrecht bei der Wahl der Behörden - einwirken kann aus seinem Ego heraus. Der einzelne Mensch ist nicht mehr nur Objekt der Regierung einer Priesterschicht, er wird, insoweit er das Bürgerrecht hat, Subjekt des werdenden staatlichen Zusammenhanges. Er nimmt an diesem Anteil aus seiner eigenen Persönlichkeit heraus, d. h. aus persönlichen Impulsen, Emotionen, Egoismen, Leidenschaften, aber im Römertum so, dass dieser staatliche Zusammenhang als etwas Über-geordnetes anerkannt wird, dem sich das Ego eingliedert, ja dem gegenüber es heroische Opfer und Taten der Selbstüberwindung zu vollbringen vermag und immer wieder vollbracht hat.

So kommt der für das Römertum und eine lange Folgezeit so grundlegend wichtige Bürgerbegriff, der Begriff des civis romanus, des eigenständigen, vollberechtigten Mitgliedes des politischen Gemeinwesens herauf, der einen wesentlichen Schritt in der menschlichen Bewusstseinsentwicklung bedeutet. Dieser Bürgerbegriff beruht auf einer Emanzipation der menschlichen Persönlichkeit aus der Allmacht der Blutsbande, die früher den Menschen noch ganz umfangen und eingeschlossen hatten. Bürger ist man nicht, insofern man einem Blutsverband angehört, sondern insofern man in den gegenüber dem Blute viel abstrakteren staatlich-politischen Zusammenhang eingegliedert ist, diesen Zusammenhang, den der Mensch in rationaler Weise schafft, der gerade im Römertum ganz und gar durchleuchtet und getragen ist von menschlicher Gedanklichkeit, von der Kraft der nun immer machtvoller heraufziehenden Verstandesseele des vierten nachatlantischen Zeitalters.»

Karl Heyer

 

«Mit dem Beginn der römischen Republik wurde die einheitliche Macht des Königtums abgelöst von zwei Konsuln, gewissermaßen zwei Staatspräsidenten, die von der Bürgerschaft gewählt wurden, und zwar immer nur auf jeweils ein Jahr. Bedenkt man die bedeutsame Zweizahl, so gewinnen die zwei römischen Konsuln, die den einen König ablösen, eine geradezu symbolhafte Bedeutung. Solange das Gemeinwesen aus einer alten übersinnlichen Weisheit geleitet wird, ist die gegebene Form die Einheit. Jede einzelne amtliche Verrichtung war einem einzelnen Beamten oder Beauftragten überwiesen. Mit dem Ende der Monarchie wurde dies anders, und darin zeigt sich wieder einmal die grandiose Durchsichtigkeit, Logik und Konsequenz, die das Römertum in allen seinen Erscheinungen kennzeichnet. Indem das menschlich-persönliche Element heraufkommt, die Egoität und Emotion des einzelnen Menschen die Zügel des sozialen Lebens ergreift, bedarf es sogleich aller möglichen Schranken gegen den Missbrauch, gegen das Überhandnehmen der Egoismen. Was die inspirierte Weisheit früher aus kosmischen Zusammenhängen geholt hatte, das muss nun ersetzt werden durch das Zusammenwirken kollegial aufgebauter Behörden, von Staatsmännern und Beamten, die sich ergänzen, aber auch überwachen und gegenseitig in Schranken halten. Sobald die Sozialentwicklung auf das menschliche Ego gestellt ist, tritt die Notwendigkeit auf, die Egoitäten gegeneinander abzuwägen. Anderenfalls würde die Alleinherrschaft nur eines Ego sich alsbald in die furchtbarste Tyrannei verkehren, und gerade dies war es, was die Römer in allen guten und besseren Zeiten ihrer Geschichte unbedingt vermieden sehen wollten. Notwendigerweise tritt daher mit der Herrschaft des menschlichen Ego das Streben auf, fortwährend und überall Gleichgewichtszustände herbeizuführen, Macht zu beschränken, Gewichten Gegengewichte gegenüberzustellen. Man könnte den Tatbestand auch so ausdrücken: Dem erwachenden Ego gegenüber macht sich alsbald ein gewisses, man könnte vielleicht sagen «methodisches» Misstrauen geltend, ein gerade hier sehr berechtigtes Misstrauen in die egoistische Natur des Menschen, und dieses Misstrauen in den Menschen gehört durchaus zu den charakteristischen Phänomenen des Römertums. »

Karl Heyer

 

«Die vollen Bürgerrechte besaßen anfangs nur die Patrizier, d. h. der Adel der Grundherren, die aristokratischen Geschlechter, die innerhalb der römischen Entwicklung das alte Blutsprinzip repräsentieren. So lange war Rom eine Art Adelsrepublik. Den Patriziern aber standen die Plebejer gegenüber, die aus den Einwohnern unter-worfener benachbarter Städte hervorgegangen waren. Diese traten als Schutzgenossen in die römische Rechtsordnung ein, und zwar als einzelne, «als sippelose Leute» - eine Tatsache von allergrößter Tragweite! Allmählich, in langen Kämpfen, erstritten sie sich immer mehr Gleichberechtigung mit den Patriziern.
Charakteristisch ist es auch, dass die Plebejer ursprünglich nicht das conubium (das Recht wechselseitiger Heiraten) mit den Patriziern hatten. Die uralte Einrichtung, dass Ehen nur innerhalb gewisser Gruppen oder Stämme zulässig sind, ergab sich für die älteren Zeiten aus der Notwendigkeit, das Blut als Träger einer bestimmten Geistigkeit oder Geistesart rein zu erhalten. Mit der immer weitergehenden Rechtsgleichheit zwischen Patriziern und Plebejern endet der älteste römische Geschlechterstaat. Es entsteht der patrizisch-plebejische populus romanus. Der Bürger der neuen gemeinsamen Bürgergemeinde ist eben der civis.

Nachdem die Plebejer auch zu fast allen politischen Ämtern zugelassen waren, wurden sie es zuletzt - was auch wiederum entwicklungsgeschichtlich bezeichnend und nur logisch ist - auch zu den meisten Priesterschaften (im Jahre 300 v. Chr.). »

Karl Heyer

 

«Unserer heutigen Vorstellung ist der Staat etwas von den Individuen völlig Verschiedenes, der altrömischen war er nichts als die Gemeinschaft sämtlicher Individuen - was dem Staat gehört, gehört ihnen, seine Interessen sind ihre Interessen, seine Verletzung ist ihre Verletzung - kurz eine Verschiedenheit in der Auffassung von der äußersten Tragweite.»

Rudolf Steiner

 

«So ergibt sich der wichtige doppelte Aspekt des römischen Bürgerbegriffs: einerseits das Ego-Werden des Menschen, der dieses Ego der äußeren Welt aufprägt, andererseits seine Einordnung in ein Größeres, das über bloße Vereinzelung des Ich (wie sie erst die neuere Zeit kennt) hinausgeht. Das römische Ego ist noch keineswegs das isolierte und atomisierte Ich des modernen Menschen, des Menschen der Bewusstseinsseelenzeit, des fünften nachatlantischen Zeitalters.

Mit diesem zweiten Aspekt des römischen Bürgerbegriffs hängt auch alles das zusammen, was in der Geschichte berühmt geworden ist als die altrömischen Tugenden der opferwilligen Hingabe des einzelnen Bürgers an den Staat, der edlen Selbstverleugnung - die römische Geschichte ist voll von Beispielen dafür. Es sind strenge, herbe Tugenden, Tugenden martialen Charakters, Tugenden der Standhaftigkeit, der Härte, der ausdauernden Tapferkeit und Aufopferungsfähigkeit, auch der Sittenreinheit. Es sind die menschlichen Qualitäten, die entscheidend mit dazu beigetragen haben, Rom zu dem zu machen, was es geworden ist.
Es ist der Impuls, alles in den Dienst des Staates und seiner Ehre zu stellen, wie das eigne Leben so auch die Religion und alles andere. Er gilt mehr als Familie und Gott.

In der Zeit des römischen Niedergangs wird dann der Staat immer mehr von diesem Ego unterworfen und verschlungen werden. Und umgekehrt wird der Staat im Lauf der Geschichte in dem Maße, wie das Ich entwicklungsmäßig innerlich nicht mehr in der Lage ist, sich ihm in selbstloser altrömischer Weise hinzugeben (und gerade darin sich zu erleben), sehr leicht zu dem Moloch, der das Menschentum verschlingt. »

Karl Heyer