Gedanken Rudolf Steiners
Eine wesentliche Beschreibung des geistigen Hintergrundes findet man bei Steiner in der GA 103, 9. Vortrag, 29. Mai 1908, S. 161 – 164.
Für mich lässt diese Stelle den wesentlichen esoterischen Hintergrund der Geschichte erkennen und es hilft mir, die Mannigfaltigkeit der exoterischen Geschehnisse zu gewichten, so dass ich eine entsprechende Themenauswahl treffen kann. Es lässt sich dadurch das Mittelpunktereignis der Weltgeschichte, die Rolle des Christus, in rechter Weise einbeziehen und schildern.
Horst Hellmann
„… Für den tieferen Kenner der Jurisprudenz ist es klar, dass das eigentliche Recht, das den Menschen als Rechtssubjekt betrachtet, erst in dieser vierten Kulturepoche entstanden ist. Da war sich der Mensch so weit seiner eigenen Persönlichkeit bewusst, dass er sich erst als ein eigentlicher Staatsbürger fühlte. Noch im Griechentum fühlte sich der einzelne Mensch als ein Glied des ganzen Stadt-Staates. Wichtiger war es, Athener zu sein als ein einzelner Mensch. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man sagt: Ich bin ein Römer – als: Ich bin ein Athener. Wenn man sagt: Ich bin ein Römer – weist man darauf hin, dass man als einzelner Mensch, als Bürger des Staates einen Wert hat, einen Willen hat. Da würde man auch nachweisen können, dass zum Beispiel die Entstehung des Begriffes „Testament“ erst in dieser Zeitepochen möglich geworden ist; denn das ist ein römischer Begriff. Erst da hatte der Mensch seinen Willen so persönlich gemacht, so individualisiert, dass er auch noch über den Tod hinaus mit seinem Willen wirken wollte. Die Dinge, die man in der Geisteswissenschaft zu sagen hat, stimmen bis aufs einzelne mit den wirklichen Tatsachen überein.
So war der Mensch immer mehr zur Durchdringung der Materie mit seinem Geiste gekommen. Aber auch später zeigt sich das immer mehr. Die vierte Zeitepoche ist die, wo der Mensch das, was er in seinem Geiste erfasst, restlos der Materie einverleibt. In der ägyptischen Pyramide sehen Sie noch, wie Geist und Materie miteinander ringen, wie sich das im Geiste Erfasste noch nicht voll in der Materie ausdrückt. Im griechischen Tempel drückt sich aus der ganze Wendepunkt in der nachatlantischen Zeit. Für den, der etwas davon versteht, gibt es sogar keine bedeutendere, keine vollendetere Architektur als die griechische, die der reinste Ausdruck ist der inneren Raumgesetzlichkeit. Die Säule ist ganz als Träger gedacht, und was auf der Säule liegt, ist ganz und gar so empfunden worden, dass es getragen werden muss und das es drückt. Der souveräne, emanzipierte Raumgedanke ist hier beim griechischen Tempel bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt.
[…]
Was ist denn der griechische Tempel? Er ist mit Notwendigkeit ein Wohnhaus des Gottes. Er ist etwas ganz anderes als die heutige Kirche. Die heutige Kirche ist eine Predigtstätte. In dem griechischen Tempel wohnte der Gott selbst darinnen. Die Menschen sind nur zufällig darin, wenn sie bei Gott sein wollen. Wer die Formen des griechischen Tempels versteht, der empfindet einen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem im Tempel wohnenden Gott. Da sieht man in den Säulen und dem, was darüber ist, nicht etwas, was der Mensch phantasiert hat, sondern etwas, was der Gott selbst so gemacht hätte, wenn er sich ein Wohnhaus hätte schaffen wollen. Das war das Höchste an Durchdringung von Materie mit Geist.
Vergleichen Sie einmal den griechischen Tempel mit einer gotischen Kirche. Es soll nichts gegen die Gotik gesagt sein, denn sie steht von einem anderen Gesichtspunkt aus auf einer höheren Stufe. Bei der gotischen Kirche sehen Sie, wie dasjenige, was in ihren Formen zum Ausdruck kommt, eigentlich gar nicht gedacht und gar nicht empfunden werden kann ohne die andächtige Menge. In den Bogenformen der Gotik liegt für den, der das empfinden kann, etwas, was er überhaupt gar nicht anders empfinden kann, als indem er sich sagt: Wenn da nicht die andächtige Menge darinnen ist und die Hände so in Bogenform zusammenschließt, ist das Ganze nicht vollständig. Die gotische Kirche ist nicht bloß das Wohnhaus Gottes, sondern zu gleicher Zeit der Versammlungsort der zum Gotte betenden Menge. So überschreitet die Menschheit wiederum den Höhepunkt ihrer eigenen Entwickelung in einer gewissen Weise. Wir sehen, wie das was innerhalb des griechischen Raumsinnes wunderbar empfunden ist in den Linien des Raumes, in den Säulen Balken, später in Dekadenz gekommen ist. Eine Säule, die nicht trägt, die nur als dekoratives Motiv da ist, ist für das griechische Empfinden keine Säule. Es steht alles in der menschlichen Evolution im absoluten Einklang. Die griechische Kulturepoche war die schönste Durchdringung des in sich entdeckten Bewusstseins der Menschheit und dessen, was draußen im Raume als das Göttliche empfunden wurde. Der Mensch war ganz und gar zusammengewachsen mit der physisch-sinnlichen Welt in dieser Kulturepoche.
Es ist einfach Unsinn, wenn heutige Gelehrte das, was frühere Zeiten empfunden haben, verdunkeln wollen. Im geisteswissenschaftlichen Sinne sehen wir die vierte Epoche der nachatlantischen Zeit an als diejenige, in welcher der Mensch ganz und gar im Einklange steht mit der ihn umgebenden Welt. Diese Zeit, wo der Mensch wie zusammengewachsen war mit der äußeren Wirklichkeit, war allein geeignet, zu begreifen, dass das Göttliche in einem einzelnen Menschen erscheinen kann. Jede frühere Zeit hätte alles andere eher begriffen als das; jede frühere Zeit hätte so empfunden, dass das Göttliche viel zu hoch und erhaben sei, als dass es in einer physischen Menschengestalt erscheinen könne. Bewahren wollte man das Göttliche gerade vor der physischen Gestalt. „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ (2. Mose 20,4), musste deshalb gerade dem Volke gesagt werden, das die Idee des Gottes in seiner geistigen Gestalt erfassen sollte. Aus solchen Anschauungen heraus entwickelte sich dieses Volk, und aus seinem Schoße erwuchs die Christus-Idee, die Idee, dass das Geistige im Fleische erscheinen sollte. Dazu wurde dieses Volk ausersehen; und da hinein, in die vierte der nachatlantischen Epochen, musste das Christus-Ereignis fallen. …“