Die innere Auflösung des Römischen Reiches
Die neuerstarkenden und an Volkszahl bedrohlich zunehmenden westgermanischen Völker drängten gefährlich gegen den schützenden römischen Grenzwall. Doch den Römern gelang es, jahrhundertelang den Druck der großen Wanderbewegung aufzuhalten. Allerdings verbarg die anscheinend noch feste Fassade des Imperiums nur den immer mehr fortschreitenden Verfall im Innern. Die alten Tugenden, die einst Rom stark gemacht hatten, waren geschwunden, Verwilderung der Sitten und die aus dem Orient eingedrungenen Laster der Ausschweifung und Genusssucht erschlafften die Kraft des Volkes.
Die freien römischen Bauern, einst das Rückgrat des Römerreiches, sanken zu Colonen herab. Diese waren landlose Bauern, auch Freigelassene, die Landparzellen aus dem Großgrundbesitz in Pacht erhielten, vom Grundherrn das notwendige Inventar, Saatgetreide und Wohnung bekamen, dafür den Boden bebauen und laufend Abgaben zahlen oder Frondienste leisten mussten, ihre Scholle aber nicht verlassen durften.
Die sinkende Steuerkraft steigerte den Steuerdruck. Die Bevölkerung nahm ab, das Geld schwand, Beamte bereicherten sich schamlos am Volksgut, nur eine dünne Oberschicht schwelgte noch als Nutznießerin im Reichtum. Grausamkeit, Willkür und sinnlose Verschwendung der Herrscher schufen anarchische Zustände, Aufstände in den Provinzen wechselten mit Pöbelunruhen und Palastrevolutionen. Die Überfremdung des Reiches nahm unheimlich zu, Germanen wurden in den Provinzen angesiedelt, um verödete oder verwüstete Landstriche wieder unter den Pflug zu nehmen, Germanen ergänzten die römischen Heere. Germanische Hilfstruppen finden wir zuerst unter Caesar, der sie im gallischen und Bürgerkrieg im größeren Umfang verwendete. Ihrer Tapferkeit spendete er sein uneingeschränktes Lob. In der Folgezeit wurden immer wieder, und zwar in stets erweitertem Ausmaß, germanische Mannschaften ausgehoben, als die Kaiser ihre Heere verstärkten. Eine große Rolle spielten sie auch als Leibwachen der Herrscher.
Im zweiten und dritten Jahrhundert bestanden die Grenztruppen fast ausschließlich aus Germanen. Sie lernten in all diesen Jahren den Gebrauch der römischen Waffen, um sie zu gegebener Zeit gegen die Römer selbst zu tragen. In dem folgenden Jahrhundert erlangten sie wegen ihrer Tüchtigkeit und Begabung auch Offiziers-, ja sogar Befehlshaberstellen, und seit Theodosius dem Großen (379-395) wurden mit Vorliebe Germanen zu Heerführern gewählt. Bei der Bedeutung des Heeres nimmt es nicht wunder, dass zeitweilig germanische Heerführer wie z. B. der Franke Arbogast, die tatsächliche Herrschaft in Händen hielten. Allmählich wurden die Germanen die Stützpfeiler Roms. Im Heer und in der Verwaltung, in der Hauptstadt und in den Provinzen wurden freiwerdende Ämter mit Germanen besetzt, die in kurzer Zeit zu den höchsten Machtstellen emporstiegen.
So war die Zeit gekommen, da das römische Weltreich seiner inneren Auflösung entgegenging, da Rom auch durch die Verlegung des Kaiserhofes nach Konstantinopel unter Constantinus (330) seines politischen Schwerpunktes verlustig ging, und die Rivalität zwischen Ost- und Westreich den Zusammenbruch förderte. Die Stunde für die Germanen brach an, die Ostgermanen, schon lange in Bewegung, rückten in die weiten Räume gegen Südosten vor, durchstießen die morschen Dämme der Verteidigung und überfluteten das Reich.