Wanderungen und die Götterdämmerung

Mit den Germanen, die im 4. Jahrhundert in den Mittelmeerraum einzudringen begannen, traten Stämme in die Welt der niedergehenden Antike ein, die bis dahin mit dem Weisheitsgut des Orients und der Philosophie der Antike in keinerlei wirkliche Berührung gekommen waren. Die Feinheiten und Formen der Gedankenkunst waren ihnen fremd. Sie lebten im unmittelbaren Anschauen der Naturvorgänge, sie erspürten oder schauten die elementarische Naturgeistigkeit, die sich in heiligen Wäldern, im Raunen der großen Ahnen, in den kosmischen Strömen, die sie an den Steinsetzungen erlebten, kundtaten. Doch für das Erleben der germanischen Stämme verdämmerte diese Natur-Geistwelt schon seit Jahrhunderten, und sie lebten so, dass sie in den Seelen ahnten: diese alte Götterwelt geht zugrunde, und das Zugrundegehen war ihnen prophetisch im Mythos der Götterdämmerung verkündet worden.

Der Mythos der Götterdämmerung hat einen irdischen Abglanz in der Nibelungensage. Diese Sage bewahrt die in alte Zeiten zurückreichende Kunde von dem großen altgermanischen Eingeweihten, dem Drachentöter Sieg oder Siegfried in sich. Die Gestalt des Sieg, der als Eingeweihter in verschiedenen Gestalten das Werden der germanischen Stämme begleitete, ragt als Siegfried bis in die Völkerwanderungszeit hinein. Die Nibelungensagen blicken auf den tragischen Tod des Siegfried als auf das Erlöschen der alten hellsichtigen Heldenkraft, die den Drachen überwinden konnte. An die Stelle des Siegfried tritt als Recke der finstere Hagen. Hagen ist der Vertreter eines ganz anderen Menschenschlags, er betont die irdische Persönlichkeit, er ist, wie so mancher Fürst dieser bewegten Zeit, ein Macht- und Gewaltmensch, wie er unter anderen in der Gestalt des Frankenkönigs Chlodwig zutage tritt. Hagen will auch von den alten Goldschätzen nichts mehr wissen, und so versenkt er den Hort der Nibelungen im Rhein.

Als also die germanischen Stämme in das römische Reich eindringen, zeigen sie sich in ihren repräsentativen Vertretern als Menschen, die einerseits als Herren, als Persönlichkeiten erscheinen, die andererseits von jungem Leben durchdrungen sind und in keiner Weise von des Gedankens oder der Kultur Blässe angekränkelt sind. Die Verbindung mit der Naturgeistigkeit bleibt noch eine Zeitlang erhalten; die aus dem Sieg über den Drachen errungene eingeweihte Geistesschau jedoch ist ermordet, die Götterdämmerung wird zur Heldendämmerung.

Die Germanen haben im Mittelmeerraum den Niedergang des römischen Reiches weiter beschleunigt. Im Jahre 378 dringen die Westgoten über den Balkan in das römische Reich ein und schlagen das römische Heer. Zu Anfang des 5. Jahrhunderts erscheinen sie in Italien, und im Jahre 410 erstürmen sie Rom. Den Westgoten folgen andere Stämme; die Ostgoten, die Vandalen, die Sueben, die Langobarden, die Burgunder und die Franken dringen nach Süden vor, die Angeln und Sachsen besetzen den südöstlichen Teil der britischen Insel. Diese Eroberungen bewirken über kurz oder lang den Untergang der antiken Stadtkultur, Handel und Gewerbe kommen zum Erliegen, das zuerst noch vorhandene Geld und Gold fließt im Austausch für wichtige Waren in den Orient ab und verschwindet ganz aus dem westlichen Europa. Man kehrt zur Naturalwirtschaft zurück; das hat zur Folge, dass fast jedes literarische und philosophische Leben, dass rhetorische und künstlerische Schulung vollends verkümmern. Die Germanen verbinden sich teilweise mit den Landbevölkerungen Italiens, Spaniens und Galliens oder leben als adlige Herrengeschlechter fort. [...] Insgesamt bewirkten diese Germanen, die die alte, dekadent gewordene römische Herrenschicht ablösten, eine Verjüngung der Lebenskraft. Sie brachten aber keinerlei Weisheit oder Kultur in höherem Sinne mit. Das römische und griechische Wesen war ihnen fremd, es wurde zunächst nicht assimiliert. Das Christentum wurde vielfach in ganz äußerlicher Weise aufgenommen. Chlodwig beispielsweise akzeptierte den neuen Glauben, weil der in der Schlacht angerufene Christengott sich mächtiger als der Gott seiner Feinde und seiner eigenen Väter erwies.

 

Quelle: "Vom geistigen Ursprung der Gegenwart", Christoph Lindenberg, Verlag Freies Geistesleben