Beispiel 1: Vorsicht!

Der CHARLATAN VERLAG hat 2005 einen Literaturwettbewerb mit dem Thema Wortgeschichten ausgeschrieben.

Folgendermaßen hieß es in der Ausschreibung:

Vom 25.9. bis 8.10.2004 spielten Kramnik und Leko in 14 Partien um den Schach-Weltmeistertitel.

Jede Partie war mit dem Namen eines berühmten Schach-Weltmeisters überschrieben, aus dessen Biographie jeweils 32 Begriffe virtuell den 32 Mittelfeldern des Schachbrettes zugeordnet waren. Die verbindliche Reihenfolge der Begriffe ergab sich aus dem Verlauf und die Anzahl aus der Länge der Partie. Aufgabe war, jeweils eine Story von maximal 300! Wörtern Länge zu schreiben, in welcher die jeweiligen Begriffe in vorgegebener Reihenfolge nur 1! Mal vorkommen sollten. Die Geschichte sollte möglichst nichts mit Schach zu tun haben und auch noch originell sein.

 

Wortliste Partie 6:

Tagesrhythmus, Computerschach, Leningrad, Elektronikingenieur, Revanche, 1948, Disziplin, Elektrotechnik, Kondition, 23. Partie, 1995, dreimal, Schachschule, Kommunist, Rechenmaschine, Vorbereitung, 1963, Autor, Moskau, Kraftwerke, "Der Weg zum Erfolg", Nikotin - Attacken, Lehrer

 

U.a mit dieser Geschichte gewann Rosemai M. Schmidt den 1. Preis der Ausschreibung.

Vorsicht!

Ein Ohrwurm namens Titus fiel aus seinem Tagesrhythmus als ein Computerschach-Spiel in Leningrad abstürzte und mit ihm die Startmelodie des Programms.

Er purzelte aus dem Ohr des Elektronikingenieurs, der eben die Revanche eines Spiels von 1948 hatte nachspielen wollen.

„Die Disziplin der Elektrotechnik geht mir trotz der Kondition, die mir das beschert, schon lange auf den Geist“, murmelte der Wurm, „ich scheiße auf die 23. Partie 1995, spucke dreimal auf alle Schachschulen der Kommunisten samt ihren Rechenmaschinen und haue ab!“

Titus stürzte sich ohne Vorbereitung aus dem Fenster in die 1963 cm-Tiefe und landete auf einem Autor aus Moskau, der eben „Oh wie so trügerisch ...“ summte. Er schwang sich auf einer Klangwelle direkt in des Mannes linkes Ohr.

„Besetzt“, rief Tina, ein zierliches Ohrwurmfräulein, das schon länger hier wohnte.
„Oh Süße“, Titus würmelte begeistert, „schau mir in die Augen Kleines!“
Langsam hob sie die Lider, und beim ersten Blick war Titus für immer verloren. Die Glut in seinem Busen machte den Kraftwerken der Welt Konkurrenz. Er warb so leidenschaftlich um die Schöne, dass sie ihn schließlich erhörte. So zog er denn als Gatte im rechten Ohr ein und zirpte fortan mit ihr um die Wette.

Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf den armen Schriftsteller, der bisher annehmen durfte, den Weg zum Erfolg gepachtet zu haben.

Die plötzlichen dissonanten Zirpgeräusche in seinen Ohren nannten die Ärzte irreparablen Tinnitus. Er wurde aus Verzweiflung darüber zum Kettenraucher, was ihm bald solche Nikotin-Attacken bescherte, dass er nicht mehr schreiben konnte.

Und schließlich wurde er Lehrer an einer Gehörlosenschule, was sehr klug war, denn dort haben Ohrwürmer keine Chance. So kam es, dass eines Morgens zwei kleine Ohrwürmer an einem Ohrstäbchen verendeten. Sie waren schlicht und einfach wegen Schwingungslosigkeit verhungert. Seither irrt ein verlorengegangener Tinnitus herrenlos durch die Welt.

„Vorsicht!“, sage ich, „Vorsicht!“

Rosemai M. Schmidt