Flechten - geheimnisvolle Burgbewohner

Ein Beitrag von Dr. Ulrich Kirschbaum, Wettenberg

Einer Burg kann man sich unter verschiedenen Gesichtspunkten nähern: Man kann sie z.B. als Ort der Unterdrückung und Ausplünderung der umliegenden Bevölkerung betrachten oder aus der Sicht der dort (oft unter schwierigen Bedingungen) lebenden Adligen. Auch aus dem Blickwinkel der lokalen oder überregionalen Politik ihrer Zeit lässt sich ein solches Bauwerk anschauen oder indem man sich mit seiner Architektur befasst.
Wenig Beachtung finden im Allgemeinen „sonstige“ Bewohner der Anlage, die Tiere und Pflanzen, die sich die (meist) steinernen Gebäude als Heimstatt auserkoren haben. Am ehesten wird der Besucher noch auf Tiere, wie Turmfalken, Mauersegler oder Fledermäuse (oder – wie jüngst auf dem Gleiberg – Wespen, fliegende Ameisen und Marienkäfer) aufmerksam, die die Burgen teilweise als alternative Wohnungen für die verloren gegangenen Höhlen in Felsen nutzen. Pflanzen hingegen, wie z.B. das auch auf der Gleiburg zu findende Zymbelkraut, werden von den Burgbesitzern oft als lästige und unerwünschte Bewohner angesehen, weil sie sich in den Ritzen und Mörtelfugen festsetzen und durch Wurzelwachstum oder Ausscheidung von Säuren zum Verfall der Mauern beitragen.

Zymbelkraut

Auf der untersten Stufe der Beachtung stehen die meist unscheinbaren Vertreter der sogenannten „Niederen Pflanzen“. Es handelt sich dabei um Algen, Moose und Flechten, deren ästhetische Schönheit sich dem rasch vorbei eilenden Besucher gewöhnlich verschließt.
Verweilt man jedoch und schaut genauer hin (am besten mit einer Lupe), so kann man – insbesondere bei den Flechten – Erstaunliches entdecken.

Flechte (gelb), Moos (grün) auf Mauer der Burg (Bildbreite ca. 35 mm)

Es handelt sich bei ihnen um merkwürdige Doppellebewesen, bestehend aus einem Pilz und einer Alge. Das Zusammenleben wird gewöhnlich als symbiotisch beschrieben (Symbiose: Zusammenleben artverschiedener Organismen zu gegenseitigem Nutzen). In unserem Beispiel bedeutet dies, dass die Alge sich um die Versorgung beider Partner mit Nahrung kümmert, der Pilz aber ist für das gemeinsame Haus, den Flechtenkörper, und den Schutz seiner Ernährerin zuständig. (Man vergleiche die Ähnlichkeit zum ursprünglichen Zweck einer Burganlage). Wie bei der Zweckgemeinschaft zwischen dem Bauern und dem Adligen, ist dieser Idealzustand auch bei den Flechten nicht konfliktfrei, weil jeder der beiden Partner seinen eigenen Überlebensvorteil im Auge hat. Manche Wissenschaftler bezeichnen das Beziehungsgefüge zwischen Pilz und Alge daher auch als Herren-Sklavenverhältnis. Im Verlauf von Jahrmillionen hat sich zwischen beiden Partnern ein Gleichgewichtszustand eingependelt der sehr zerbrechlich ist und bei Veränderungen in der Umwelt leicht zum Zusammenbruch der Gemeinschaft führt. Daher sind Flechten u.a. sehr empfindliche Anzeiger für Veränderungen in der Luftgüte bzw. des Klimas (Klimawandel).

Sieht man einmal von dieser Empfindlichkeit ab, so gelten die Flechten als Bewohner extremer Standorte (wo sie vor der Konkurrenz von höheren Pflanzen geschützt sind). Solche Standorte sind z.B. die an sich lebensfeindlichen Felsen oder auch die Mauern der Burgen. Wenn man die Burg Gleiberg über Jahrzehnte immer wieder unter dem Gesichtspunkt der Flechtenentwicklung besucht (wie der Verfasser), so lässt sich Erstaunliches beobachten:

Noch Mitte des letzten Jahrhunderts waren hier kaum Flechten zu finden. Das war der damaligen hohen Belastung mit Luftschadstoffen (v.a. Schwefeldioxid geschuldet). Nach dem Rückgang dieser für Flechten tödlichen (und auch für Menschen toxischen) Luftverunreinigungen wanderten Flechten wieder in unsere Umgebung ein. Dieser Prozess der Rückbesiedlung ist nicht abgeschlossen, sondern setzt sich bis heute fort. (So ist im Jahr z.B. 2018 eine wahre Invasion von jungen – und daher noch kleinen – Vertretern aus der Gruppe der Landkartenflechten zu beobachten. Überall auf den Mauern finden sich diese gelbgrünen Exemplare von der Größe eines 5 Cent-Stückes). Bei stärkerer Vergrößerung (Lupe) erkennt man den aus kleinen Arealen bestehenden, gelbgrünen Flechtenkörper und die dazwischen befindlichen, schwarzen Fruchtkörper des Flechtenpilzes. Das Vorkommen dieser Art lässt übrigens darauf schließen, dass es sich bei dem Wachstumssubstrat um ein nicht kalkhaltiges Gestein handeln muss (was für den Gleiberg-Basalt ja zutrifft).

Landkartenflechten (Bildbreite ca. 60 mm)

Grundsätzlich gilt, dass grüngelbe Krustenflechten auf silikatischem Gestein, gelbe und orangegelbe Arten aber bevorzugt auf kalkhaltigem Gestein vorkommen (diese Erkenntnis kann man sich z.B. in den Alpen zunutze machen). Kompliziert wird dieser Sachverhalt, wenn sich z.B. in Mauern aus saurem (silikatischem) Gestein Mörtelfugen befinden. In diesen kalkhaltigen Fugen wachsen kalkliebende Flechten. Wird nun Kalk aus den Fugen durch Regen ausgewaschen, so wird auch das saure Gestein davon überspült und die kalkholden Arten gehen auf den silikatischen Basalt über. (Am Gleiberg ist dieses verwirrende Phänomen vielerorts zu beobachten, weshalb viele Flechten durch ihre orangegelbe Farbe ins Auge fallen).

Dieser Trügerische Schönfleck wächst auf einer Mörtelfuge (Bildbreite ca. 24 mm)

Weitere Flechten, die kalkreiche Substrate besiedeln, sind in den folgenden vier Bildern dargestellt – alle von gelber bis orangegelber Färbung … und fallen daher an den Mauern der Burg jedermann ins Auge (zumal sie auch relativ groß sind). Während die ersten beiden Arten in der Regel schüsselförmige Fruchtkörper des Pilzpartners aufweisen, fehlen diese bei den letzteren.

Zierliche Gelbflechte (Bildbreite ca. 20 mm)

 

Gewöhnliche Wand-Gelbflechte (Bildbreite ca. 80 mm)

Die beiden folgenden Arten sind nicht nur Anzeiger für kalkbeeinflusste Gesteine, sondern sie sind auch sogenannte Klimawandelzeiger, d.h. sie sind wärmeliebende Arten und erst in den letzten Jahren hier eingewandert (ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei den rindenbewohnenden Baumflechten beobachten).

Kalk-Gelbflechte (Bildbreite ca. 35 mm)

 

Stein-Gelbflechte (Bildbreite ca. 40 mm)

Nicht alle kalkliebenden Arten sind orangegelb: Die blaugraue Blattflechte im nächsten Bild bevorzugt nährstoffreichen, staubimprägnierten Untergrund, kommt aber auch dort vor, wo der Basalt durch aus Mörtelfugen ausgewaschene Calcium-Ionen leicht alkalisch wird.
 

Blaugraue Blattflechte auf nährstoffangereichertem Basalt (Bildbreite ca. 17 mm)

Auch die nachfolgend abgebildete, weißgraue Krustenflechte mit schüsselförmigen Fruchtkörpern des Pilzpartners wächst auf kalkreichem Gestein.

Kalkflechte (Bildbreite ca. 10 mm)

Während die Mehrzahl der hier aufgezeigten Flechtenarten typischerweise an alten Gemäuern (v.a. Burgmauern) vorkommt, gibt es auch eine ganze Reihe von Allerweltsarten, die auf sehr unterschiedlichen Gesteinsunterlagen zu finden sind. Als charakteristischer Vertreter dieser Gruppe sei hier die Gewöhnliche Mauerflechte gezeigt. Wie die meisten Flechten ist sie im feuchten Zustand leicht grünlich, weil dann die unter der oberen Rinde befindlichen Algen deutlicher hindurch scheinen, im trockenen Zustand hingegen ist sie weißlich und sieht dann wie ein breit getretener Kaugummi aus. Man findet sie auf Wegplatten, Pflastersteinen, Grabsteinen – und eben auch auf den Mauern der Burg Gleiberg.

Gewöhnliche Mauerflechte (Bildbreite ca. 60 mm)

Flechten sind zwar unscheinbare Lebewesen – sie können jedoch in vielen Fällen etwas über die Umweltbedingungen ihres Lebensraumes „erzählen“.
Vielleicht kann dieser kleine Aufsatz dazu beitragen, sich an der verborgenen Schönheit der Lichenen (Flechten) beim Besuch der Burg zu erfreuen und auch dem zuzuhören, was die Kleinen zu „berichten“ haben. Weit muss man dazu nicht laufen: Wer sich für eine Weile auf eine der Burgmauern setzt und genau hinschaut, wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Arten entdecken: Das letzte Bild zeigt einen Mauerabschnitt von ca. 4 x 4 cm. Auf dieser kleine Fläche sind mehr als 10 unterschiedliche Flechtenarten zu sehen, die man auch als Laie als verschieden erkennen kann.

Flechtengesellschaft auf kleinstem Raum (ca. 10 Arten; Bildbreite: 37 mm)

Zerstörerische Wirkungen von Flechten auf Burgmauern?

Bleibt abschließend noch die Frage zu klären: Beschleunigt der Bewuchs von Flechten die Zerstörung der alten Mauern?
Die dem Gesteinssubstrat oberflächlich aufsitzenden Blatt- und Strauchflechten sind lediglich durch in feinste Gesteinsritzen vordringende Pilzfäden mit dem Gestein verbunden. Krustenflechten sind dagegen mit der ganzen Unterlage über im Stein wachsende Pilzfäden verbunden und „werden in der Regel zu einem Bestandteil des Denkmalgesteins“ (Drewello 2009). Untersuchungen von Drewello & Drewello (2009) haben gezeigt, dass die Pilzfäden im Fall von Filamentkalk selbst über einen längeren Zeitraum nur bis zu einem halben Millimeter einzuwachsen vermögen; unter günstigeren Bedingungen können auch Eindringtiefen von einem Millimeter erreicht werden. Gesichert ist auch, dass die Flechten das Substrat lediglich zum Festhalten nutzen – Stoffe werden dem Substrat nicht entzogen (wie das z.B. durch die Wurzeln bei Pflanzen der Fall ist).

Diese Frage ist somit nicht eindeutig zu beantworten. Einerseits ist bekannt, dass auch Flechten organische Säuren ausscheiden, die den Zerfall von Gesteinen beschleunigen. Hiervon betroffen sind naturgemäß eher Kalkgesteine, während die Säureeinwirkungen im Fall von Silikatgesteinen (z.B. Basalt) sehr gering sind.

Andererseits haben diesbezügliche Untersuchungen an süddeutschen Burgen gezeigt, dass der Bewuchs auch als eine Art Schutzfilm vor anderen zerstörerischen Elementen (z.B. saurer Regen, aggressive Luftschadstoffe) wirkt. Ein mechanisches Entfernen des Bewuchses führt auf jeden Fall auch zu einer mechanischen Belastung des Mauerwerks und muss im Abstand weniger Jahre wiederholt werden, weil die Flechten wiederkehren (bzw. sich aus den nicht abgekratzten Resten regenerieren). Die Autoren der süddeutschen Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass es kostengünstiger und (naturschutzverträglicher) ist, wenn man den Belag auf den Mauern belässt; erodierende und schützende Wirkungen des Flechtenbewuchses halten sich annähernd die Waage.

 

Literatur (zur Frage der Schädlichkeit von Flechten für Burgmauern):
DREWELLO, R. (2009): Vier Burgen in der Fränkischen Schweiz. Erfahrungen in der Abstimmung von Denkmalpflege, Landschaftspflege und Naturschutz. – Historische Kulturlandschaft und Denkmalpflege. Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege, Band 19: 158–168, Bamberg.
DREWELLO, R. & DREWELLO, U. (2009): Flechten auf Denkmälern: Indikatoren und Vermittler zwischen Denkmal- und Naturschutz. – In: Bayer. Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Rundgespräche der Kommission für Ökologie 36: Ökologische Rolle der Flechten: 161–182, München.