Mathematisch diagnostische Interviews

Ein Beitrag von Hannah Klatt

Für die Klasse 5 und 6.

Guter Mathematikunterricht kann Schüler*innen einen Raum bieten, genau in diesen Genuss zu kommen und ermöglicht ihnen die Chance, diesen (Lern-)Weg zu beschreiten. Um Schüler*innen auf diesem Lernweg zu unterstützen, ist es wichtig herauszufinden, wo sie sich gerade befinden und welche Voraussetzungen sie mitbringen. Wenn es um Brüche geht, ist es hilfreich zu wissen, ob ein*e Schüler*in hauptsächlich mit Tortenstücken rechnet. Dann ist es nämlich nachvollziehbar, wenn 2/3 zu einem Achtel dazu addiert werden und das Ergebnis 3/4 sind. Wurde unser Stellenwertsystem auch für die Nachkommastellen schon verstanden oder ist die Dezimalzahl 0,8 kleiner als 0,456, weil ja klar ist, dass 8 kleiner als 456 ist?

Im Rahmen einer Abschlussarbeit habe ich mich mit sogenannten mathematisch diagnostischen Interviews befasst, einem Diagnoseinstrument zur Erfassung von Vorerfahrung und Vorwissen von Lernenden mit Blick auf die mathematischen Kompetenzen. Diese Interviews wurden im Zuge des Numeracy Development Projects [1] in Neuseeland entwickelt und fragen nicht nur das Wissen von Schüler*innen (z.B. wie sicher sitzt das Einmaleins), sondern auch und vor allem die Vielfalt der Denkstrategien ab.

Wissen Sie, auf wie viele verschiedenen Arten man 18 mit 3 multiplizieren kann? Die Bereiche, die das Interview abfragt, sind Addition und Subtraktion, Multiplikation und Division sowie Proportionen und Anteile.

Das Interview wird mündlich durchgeführt. Hierbei wird neben der Lösung der Aufgabe immer auch abgefragt, wie die Lernenden auf die Lösung gekommen sind und welche alternativen Wege es geben könnte. Die Interviews sind so aufgebaut, dass niemals zwei Fragen aufeinander folgen, die ein*e Schüler*in nicht lösen kann, es soll bewusst keine Negativerfahrung im Zusammenhang mit der Mathematik entstehen.

Ob Matheprofi oder Mathemeider: die Interviews geben einen Anhaltspunkt, wo welche*r Schüler*in im Bereich Mathematik mit seinem oder ihrem individuellen Lernstand gerade steht. Basierend hierauf können die unterrichtende Lehrperson den Unterricht und dessen Inhalte weiter planen, anpassen und so bestmöglich die Lernenden auf dem jeweiligen Level abholen, fördern und fordern.

Überrascht hat mich, wie viel Spaß es sowohl den Schüler*innen, aber auch mir, gemacht hat, diese Interviews durchzuführen. Schön war es, die Begeisterung der Klassenlehrerin für die verschiedenen Denkstrategien ihrer Schüler*innen zu sehen, die auftauchten, obwohl sie die meisten Schüler*innen seit der ersten Klasse kannte und fast alle seit dem ersten Schuljahr durchgehend denselben Mathematikunterricht genossen haben. Auch die sichtbare Erfahrung sich über mathematische Denkprozesse auszutauschen und die Freude der Schüler*innen darüber, hat mich schnell überzeugt mich weiter mit den Interviews zu befassen.

Ich führe die Interviews nun bereits zum dritten Mal mit einem Jahrgang unserer Schule durch. Was als Projekt im Rahmen meiner Abschlussarbeit begonnen hat ist mittlerweile in unser Schulgeschehen integriert. Zusammen mit der Förderlehrerin unserer Schule versuchen wir die Interviews jeweils im 5. Jahrgang als Möglichkeit einer allgemeinen Lernstandserhebung im Fach Mathematik durchzuführen. Zugleich ermöglicht dies einen Blick aufs einzelne Kind und es wird kenntlich, wer mit welchem Zahlenzugang erreicht werden kann. Ein Anknüpfen an den individuellen Lernstand wird möglich. 

Es ist jedes Mal eine spannende und motivierende Erfahrung zu merken, dass wirklich alle Schüler*innen in der Lage sind, sich bis zu einer ganzen Stunde über die eigenen mathematischen Denkprozesse auszutauschen. Auch Schüler*innen, die im Unterricht nicht zu Wort kommen, bekommen hier die Chance in ein mathematisches Gespräch zu kommen und die Erfahrung zu machen „auch in Mathematik habe ich etwas zu sagen!“.

Im Anschluss werden die Interviews ausgewertet und wir gehen in die Kommunikation mit den unterrichtenden Mathematiklehrer*innen der Klasse. Durch die gezielte Rückmeldung kann herausgearbeitet werden, was wem schon leichtfällt und wer gegebenenfalls noch Unterstützungsbedarf hat und insbesondere, wo es bei der Unterstützung anzusetzen gilt.

Die Interviews können zudem Anlass bieten, z.B. auf einem Elternabend, darüber in Austausch zu kommen, wie es möglich ist, auch außerhalb der Schule weiter mit den Ergebnissen zu arbeiten, wie das Elternhaus am Umgang mit dem Fach Mathematik und der Grundeinstellung diesem gegenüber mitwirkt. Sind beispielsweise Brüche etwas ganz Normales, was bereits durchs Backen, Kochen und gerechtes Teilen bekannt ist, oder werden sie zum großen Stolperstein in der mathematischen Schullaufbahn?

Für mich als Lehrerin waren die Interviews auf sehr vielen Ebenen eine große Bereicherung. Neben der Freude mich so positiv über Mathematik auszutauschen, hat bei mir eine Sensibilisierung für die verschiedenen Denkstrategien der Schüler*innen stattgefunden. Mir wurde vor Augen geführt, dass, wer ähnliche Denkstrategien verwendet wie ich, damit einen Vorteil hat, meinen Erklärungen zu folgen. Gleichzeitig wurde mir die Vielzahl an verschiedenen Lösungswegen bewusst, die selbst bei Aufgaben wie 354+79 angewandt werden können.

Die Schüler*innen haben während des Interviews eine Wertschätzung und Wahrnehmung ihrer ganz eigenen Denkwege erfahren und wurden in ihrem mathematischen Denken bestärkt.

Wunderbar wie vielseitig wir denken!


[1] Bei dem Numeracy Development Project handelt es sich um ein Projekt zur Förderung von Mathematikunterricht und Unterstützung von Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen im Fach Mathematik, welches seit 1999 in Neuseeland entwickelt wurde und seit dem an einem Großteil der Schulen in Neuseeland durchgeführt und fortwährend weiter entwickelt wird. Auf der neuseeländischen Internetseite des Numeracy development Projects sind sowohl die Interviews als auch Fördermaterialien frei verfügbar. (vgl. hierzu u.a.: https://nzmaths.co.nz/numeracy-project-teaching-resources)

Eine Bremer Forschungsgruppe hat die Interviews übersetzt und ein Arbeitsheft erstellt, dass sowohl durch die Interviews (inklusive Kopievorlagen), wie auch durch die Auswertung führt. Das Heft ist im Friedrichverlag erschienen, eine Kurzversion findet sich allerdings auch kostenfrei im Netz: https://docplayer.org/135928232-Diagnostisches-interview-kiwis-ein-arithmetik-interview-zu-wissen-und-strategien.html