Fahrgastführerschein (1)

Verwirrung am Kuseler Bahnhof“ oder
Wie es zum Nahverkehrserkundungsprojekt in der 5. Klasse kam.

Am Dienstag, 13. Juli 04 war es in der fünften Klasse der Freien Waldorfschule Westpfalz in Otterberg endlich soweit. Der „Fahrgastführerschein“ in Zusammenarbeit mit dem „Westpfalz Verkehrsverbund“ (WVV) sollte erworben werden.

Nachdem die Idee im heimischen Wohnzimmer geboren war und erste Gespräche mit dem WVV sehr positiv verliefen, stand der Umsetzung des Projektes nichts mehr im Wege. Im Rahmen des Erdkundeunterrichtes sollten die Schülerinnen und Schüler in einem zweiwöchigen Projekt während des Hauptunterrichtes den praktischen Umgang mit Bus und Bahn, mit Fahrplänen und Liniennetzen in einem für sie übersichtlichen Gebiet üben und praktisch umsetzen können. Es galt, den „Fahrgastführerschein“ zu erwerben, ein Zertifikat, das die Schule gemeinsam mit dem WVV zum Abschluss des Projektes bei erfolgreicher Teilnahme ausstellte.

„Fahrt mit dem Bus von Otterberg nach Otterbach. Von dort aus mit dem Zug nach Lauterecken. Besorgt euch einen Stempel an der Draisinenstation. Fahrt weiter mit dem Bus nach Kusel, besorgt euch einen Stempel in der RSW Niederlassung. Wenn ihr Zeit habt, schaut euch die Stadt an oder geht ein Eis essen. Fahrt dann per Zug nach Kaiserslautern, dort vom Bahnhof zum Schillerplatz, besorgt einen Stempel der TWK und kommt schließlich zurück zur Bahnhofsmission.“

So lautete eine der Aufgaben, die es am Abschlusstag zu bewältigen galt. Die Schülerinnen und Schüler waren aufgeteilt in 7 Gruppen mit jeweils 4-5 Kindern, Jungen und Mädchen gemischt. Eine zweite Gruppe sollte eine andere Richtung erkunden:

„Fahrt von Otterberg nach Kaiserslautern, dann weiter mit dem Zug nach Pirmasens. Besorgt euch in Pirmasens einen Stempel der WVV Niederlassung in der Bahnhofstraße 50. Fahrt dann mit dem Stadtbus zum Exerzierplatz. Besorgt euch einen Stempel der Stadtwerke Pirmasens. Fahrt zurück zum Bahnhof und dann mit dem Zug nach Zweibrücken. Lauft vom Bahnhof zum ZOB, von dort Abfahrt nach Homburg mit dem Bus. Besorgt euch in Homburg einen Stempel im Servicecenter am Bahnhof. Fahrt mit dem Zug nach Kaiserslautern. Bevor ihr zur Bahnhofsmission kommt, besorgt euch noch einen Stempel beim WVV in der Bahnhofstr.22“

Nachdem alle 7 Gruppen morgens um 8.00 Uhr ihre Aufgaben erhalten hatten, mussten sie sich zunächst im Klassenraum einen Fahrplan für den Tag erstellen. Da wurden die Pläne gewälzt, das Internet konnte genutzt werden (was praktisch niemand tat), oder die telefonische Auskunft des WVV befragt werden. Stand der Fahrplan fest, wurde er vom Lehrer gegengezeichnet und die Gruppe durfte losfahren. Die Fahrtroute musste mit den Stempeln an den Stationen nachgewiesen werden. Alle Routen waren so koordiniert, dass die Schüler sowohl Bus als auch Zug fahren mussten und alle Routen blieben im Bereich des WVV, dessen Gebiet von Kusel bis Pirmasens und Dahn, über Homburg, Zweibrücken, Kaiserslautern bis Kirchheimbolanden, Alsenz und Lauterecken reicht, denn die Schüler benutzten das WVV Gruppentagesticket.

Trotz intensiver Vorbereitungen waren die Schüler an diesem Dienstagmorgen ganz schön aufgeregt. Ob wohl alle Anschlüsse klappen werden? Mehr als einmal musste nach den richtigen Haltestellen gesucht werden. Verwirrung entstand nur am Kuseler Bahnhof, denn die Schüler glaubten kaum, dass so ein altes Gebäude wirklich der Bahnhof einer Kreisstadt sein sollte. Bei allen Anlaufstellen des WVV wurden die Schüler freundlich empfangen, Busfahrer gaben unterwegs gerne Auskunft über weitere Anschlüsse. So erreichten alle Gruppen ihr gemeinsames Ziel am Nachmittag: die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof in Kaiserslautern, die freundlicherweise ihre Räume als Anlaufstelle zur Verfügung gestellt

In einem schriftlichen Fahrprotokoll musste jede Gruppe festhalten, ob die Busse und Züge pünktlich kamen. Außerdem wurden alle Ortschaften notiert, durch die die Schüler an diesem Tage mit Bus oder Bahn fuhren. Zur Sicherheit galt, dass die Gruppen immer zusammen bleiben mussten, keiner durfte allein einen Weg fortsetzen. Für den Fall, dass eine Gruppe nicht weiter wusste, hatten alle Gruppen die Telefonnummern des Schulbüros und der Bahnhofsmission dabei, um den Klassenlehrer erreichen zu können. Zweimal nur wurde von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

Am Nachmittag hatten alle Schüler den „Fahrgastführerschein“ bestanden, der ihnen am nächsten Tag vom Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des WVV im Klassenraum überreicht wurde.

 

Wie entstand dieses Projekt?

Zu einer der vornehmen Aufgaben der Klassenlehrerzeit gehört es, dass Kind in der Welt zu beheimaten, ihm Sicherheit zu geben, um die selbstständigen Schritte in die Welt wagen zu können. Erkunden wir in den ersten drei Schuljahren das nahe Umfeld der Schule und begehen in der vierten Klasse im Rahmen der Heimatkunde die Bäche der näheren Umgebung, erwandern gemeinsam Berge und Landschaften im nahgelegenen Umkreis der Schule, so gilt es in der fünften Klasse, diesen Radius weiter zu ziehen und das wachsende Alter der Schüler, das schon mehr nach Selbstständigkeit am Ende einer fünften Klasse drängt, zu berücksichtigen.

Das 10. Lebensjahr (vierte Klasse) ist die eigentliche Tummelzeit, in der die Schüler am Nachmittag auf eigene Faust ihre Umgebung erkunden, über Stunden hinweg nicht zu Hause zu sehen sind. „Kinder, die sich jetzt nicht austoben dürfen, werden später Duckmäuser, Querulanten, Pharisäer oder Moralprediger. Sie werden kaum noch erfahren, was es heißt, aus dem Lebensüberschuss heraus zu handeln.“ (Kischnik, in: Der Plumpsack geht herum). Dazu gesellt sich im 11. und 12. Lebensjahre noch stärker die Abenteuerlust. Fremde Orte und Städte erkunden, sich auf eigene Faust etwas zutrauen und von den Erwachsenen zugetraut bekommen. Andererseits tauchen Befürchtungen und Ängste auf: Schaffe ich das? Was erwartet mich in einer fremden Stadt? Und wenn ich Hilfe brauche? Diese gilt es zu überwinden, Mut und Selbstvertrauen zu entwickeln. Sich allein einen ganzen Tag lang im öffentlichen Nahverkehr im Umkreis von 50 km zu bewegen, das ist schon eine Herausforderung für einen Fünftklässler.

Weitere Erlebnisse und Gedanken führten zu diesem Nahverkehrserkundungsprojekt. Immer wieder kam es nämlich vor, dass Schüler ihren Bus zur Schule verpassten und zu Hause anriefen, um von der Schule abgeholt zu werden oder morgens nicht mehr zur Schule kamen, weil sie nicht wussten, wann und wie der nächste Bus oder Zug fuhr, nachdem sie ihren richtigen Bus verpasst hatten. Zeit also, um in einer fünften Klasse aus der alltäglichen Situation heraus zu lernen und den Nahverkehr mit Zug und Bus im praktischen Vollzug kennen zu lernen. Zudem gibt es immer mehr Schüler, die nur noch Auto fahren, aber das Bus- und Zugfahren kaum noch kennen.

Das Ziel des Projektes lautete also: Bus- und Zugfahren lernen im Bereich des WVV – Westpfalz Verkehrsverbundes - und selbstständig mit den Fahrplänen und Anschlüssen umgehen lernen.

Darüber hinaus: Im Rahmen des Erdkundeunterrichtes die Heimat erkunden, die nähere Umgebung kennen lernen, aber nicht nur mit dem Finger auf der Landkarte, sondern so, dass man Dörfer und Städte, Berge und Täler wirklich gesehen hat. So sollte das neu entwickelte Zertifikat, der „Fahrgastführerschein“, Anreiz und Belohnung zugleich sein.

 

Nun aber Schritt für Schritt durch das Projekt

Zu Beginn des zweiwöchigen Projektes musste jeder Schüler seinen Weg zur Schule beschreiben. Durch welche Orte kommen ich, welche Verkehrsmittel benutze ich? Wäre es auch möglich, nur mit Bus oder Zug zu fahren statt mit Mamas Taxi?

Im zweiten Schritt machten wir uns mit den Busplänen vertraut. Was bedeuten die Zeichen auf den Abfahrtsplänen an der Haltestelle? Wie finde ich im großen Linienplan meine Buslinie? So erkundeten wir zunächst die Strecke Otterberg – Kaiserslautern. Dann lernten wir die weiteren Linien kennen und schließlich das gesamte Netz des Westpfalz Verkehrsverbundes. Neue Ortsnamen wurden da bekannt: Wo liegt Bruchmühlbach-Miesau? Wie komme ich nach Bann? Wie weit ist es bis Grumbach? Kann man mit dem Bus nach Dahn fahren? Nach einem ersten Überblick über den Busverkehr, galt es im nächsten Schritt den Zugverkehr zu erforschen.

Wie lese ich den Abfahrtsplan am Bahnhof, was bedeutet der weiße Ankunftsplan? Was sagen uns die Zugbezeichnungen RE, RB, EC, IC, ICE, TR? Darf ich alle Züge benutzen? Wie lange braucht ein Zug, der um 8.41 abfährt und um 10.23 ankommt? Das lässt sich nicht im Zehnersystem einfach abziehen. So lernten wir nebenbei noch im 60er System das Abziehen und Zusammenzählen. Immerhin stammt dieses alte Zahlensystem aus der Zeit der Babylonier, was wir schon im Geschichtsunterricht kennen gelernt hatten. Dazu kam dann ein Besuch im Bahnhof Kaiserslautern. Natürlich fuhren wir mit dem Linienbus dort hin, Abfahrt Otterberg, Haltestelle Pegulan, 8.49 Uhr.

Am Bahnhof „überfielen“ wir die Bahnhofsmission, deren Leiterin, Frau Külz, sich über soviel Ansturm freute. Gern führte sie einen Teil der Schüler in die Aufgaben der Bahnhofsmission ein, während der andere Teil mit einem Fragespiel den Bahnhof erkundete: Was bedeuten die Anzeigentafeln? Wie erfahre ich, auf welches Gleis ich muss? Wo kaufe ich meine Fahrkarte? Wie funktionieren die Automaten? Kann ich von hier aus meine Oma in Würzburg besuchen? Der Automat gibt gern Auskunft über die Anschlüsse, man muss ihn aber zu bedienen wissen. Nur die EC Karte zum Bezahlen der Fahrkarte hat gefehlt. Was bedeutet der Wagenstandsanzeiger, wie verhalte ich mich im Bahnhof, an den Bahnsteigen, wo bekomme ich Auskunft? Was tue ich, wenn ich nicht mehr weiter weiß? All das erfuhren die Schüler an diesem Vormittag.

Im letzen Schritt lernten wir die unterschiedlichen Auskunftsmöglichkeiten kennen: Den telefonischen Fahrplanservice des WVV und die teuren telefonischen Auskünfte der Bundesbahn sowie die Fahrplanauskünfte im Internet unter http://www.wvv-info.de.

Als der Fahrgastführerschein am 13. Juli erworben wurde, war es Ehrensache, dass die Schüler vom Bahnhof in Kaiserslautern mit öffentlichen Verkehrsmitteln ihren Heimweg antraten.

Am Ende des Schuljahres nach den interessantesten Epochen befragt, wurde dieses Projekt häufig von den Schülerinnen und Schülern genannt. Zwei Auszüge aus Aufsätzen, die sie später über diesen Tag schrieben, spiegeln den erlebnisreichen Tag wider:

„Unsere Gruppe saß auf dem Schulflur und blätterte im Busfahrplan. „Mist! Wenn wir den ersten Bus nach Otterbach nehmen, haben wir nur 1 Minute zum Umsteigen! Das schaffen wir nie!“ wir entschieden uns anders und nahmen einen Bus, der 45 Minuten später fuhr. In Otterbach hieß es: „Auf nach Lauterecken!“ In der Regionalbahn nach Lauterecken unterhielten wir uns mit einem netten Schaffner, der sich sehr für die Waldorfschule interessierte. In Lauterecken ging es dann weiter mit dem Bus nach Kusel. „Was für ein Kaff diese Kreisstadt ist. Der Bahnhof - ein altes herunter gekommenes Bahnhofsgebäude!“

„Als wir mit dem Bus in Kaiserslautern ankamen, fuhren wir weiter mit dem Zug nach Homburg. Dort war es eigentlich schön. wir kauften uns am Bahnhof Pommes. Dann fuhren wir mit dem Bus nach Kusel weiter. Unterwegs schrieben wir alle Orte auf. Kusel war eine verlassene und schreckliche Stadt. Es gab nur Jugendliche und einen alten Bahnhof. Auf dem Weg nach Kaiserslautern hat Aria im Zug gesungen. Wir fanden das blamierend. Dann kamen wir in Kaiserslautern an und hatten alle Aufgaben erfüllt und waren sogar noch die Zweiten, die ankamen.“

Reinhard Schönherr-Dhom,
Freie Waldorfschule Otterberg

 

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