Die Weser-Epoche
Ein Beitrag von Thomas Peek (Ita Wegman Schule Benefeld)
Jedes Schuljahr begeistern auch an heilpädagogischen Schulen einzelne Epochen so, dass sie lange viel Gesprächsstoff für Pausenbegegnungen bieten und oft die Motive selbst zu gestaltender Schülerbilder bestimmen. Die erstmals erteilte Epoche Erdkunde lebte besonders lange und nachhaltig in der 5. Klasse. Schließlich führte uns fast wie selbstverständlich auch die Klassenfahrt nach Porta Westfalica an den Weserstrom.
Mit der ersten Erdkundeepoche soll das Verständnis der Schüler erweitert werden für naturräumliche Gegebenheiten und kulturgeographische Besonderheiten von Landschaften in der Nachbarschaft zum bereits in der Heimatkunde besprochenen Raum. So wird die engere Heimat eingebunden in größere Regionen und ein tieferes Verständnis der näheren gleichwie weiteren Umgebung erst durch die Betrachtung vieler Zusammenhänge möglich. Große Flüsse verbinden Landschaften und die an ihren Ufern lebenden Menschen miteinander. Deshalb empfiehlt es sich Ströme genauer zu betrachten. Die 5. Klasse begann ihre Epoche mit einer Weserkarte, die ausführlich besprochen, dann als Leerkarte beschriftet und schließlich von Schülern aquarelliert wurde.
Im Süden der Weserkarte winden sich die Quellflüsse Fulda und Werra durch Mittelgebirge und ändern dabei fast regelmäßig ihre Fließrichtung. Kaum beschrieben, begeisterten sich sofort alle Schüler für die Vorstellung, dass die Fulda auf kahler Höhe des längst erloschenen Vulkans Wasserkuppe entspringt. Viele Fünftklässler wissen bereits manches über Vulkanismus. Unglaublich fanden es die meisten hingegen, dass die Werraquelle auch heute noch umstritten ist, obwohl vor über 100 Jahren ein Förster willkürlich eine mehrerer Quellen fassen ließ und mit einem Bronzeschild fortan aller Welt den Ursprung dieses Flusses kundtat
(Abb. 3, die gefasste Quelle am Zeupelsberg). Ein so großer und wichtiger Quellfluss der Weser könne doch wohl nur aus einer Quelle rinnen, darin waren sich alle einig. Deshalb schlug ein Mädchen sofort vor, mit ihren Großeltern dorthin zu fahren, um die richtige Quelle zu finden. Dieser Vorsatz wurde bisher allerdings nicht in die Tat umgesetzt. Schwieriger gestalteten sich die Vorstellungen von Himmelsrichtungen. Dass Fulda und Werra im Süden entspringen, in nördliche Richtungen fließen und schließlich als Weser in die Nordsee münden wusste bald jeder. Aber warum die Quellen von Fulda und Werra zunächst nach Süden rinnen, um später nach Westen und erst anschließend nach Norden zu fließen barg einige Vorstellungsschwierigkeiten. „Flüsse fließen doch immer geradeaus" wurde behauptet. Bald offenbarte sich eine Ursache dieses Missverständnisses.
Fast alle Schüler stammen aus dem norddeutschen Flachland, in dem Flüsse zwar mäandrieren, aber weitgehend einer Himmelsrichtung folgen. Dass diese Erfahrung in bergigen Landschaften nicht zwangsläufig gilt, erlebte die Klasse viel später während des Jugendherbergsaufenthaltes.
Erzählungen über die alte Stadt Fulda, von Bonifatius und dem Fällen der Donareiche (Abb.4, Bonifatius fällt die Donareiche), von Töpfern und Fischern, vom Kalibergbau im Werratal (Abb. 5, links der Kaliberge, rechts der Weserkuss bei Hannoversch Münden) oder von Flößern, die das Holz für den Schiffsbau an die Waterkant lieferten prägten vorerst den Unterricht.
Einzelne Schüler bemerkten von selbst während des Kartographierens, dass alle Straßen und Eisenbahnlinien entlang der Flusstäler verlaufen und wiederum ein Mädchen kannte bereits eine Fassung des Liedes vom Doktor Eisenbarth auswendig, als Hannoversch Münden besprochen wurde. Höchst gespannt und mit vielen Fragen verfolgten die Schüler nun Erklärungen zur Frühzeit der Medizin und lauschten Berichten zu Quacksalbereien. Ungeduldig wurde der Zusammenfluss von Fulda und Werra erwartet. Als es endlich sichtbar auf einem Tafelbild und erörtert durch den Spruch „Wo Fulda sich und Werra küssen..." zur Weservereinigung kam, baten zwei Schüler um Erlaubnis, ihre Version des Bildes auf die noch freie Tafelseite malen zu dürfen. Innerhalb kurzer Zeit entstand so ein beachtetes Schülerporträt von Hannoversch Münden mit Anglern, Radfahrern, Schiffen und Lichtreflexen auf Fulda und Werra.
Die Oberweser bis Minden fließt vorbei am berühmten Reichskloster Corvey und an Hameln. Da nur wenige Schüler die Sage vom Rattenfänger kannten, wurde sie erzählt, besprochen, geschrieben und gemalt (Abb. 7, Zeichnung zum Rattenfänger). Selten war die Klasse so betroffen von einer Schlussszene. Als die Kinder Hamelns dem Rattenfänger und seiner Flöte wohl für immer in den Berg folgten, herrschte für Momente völlige Stille im Klassenraum. Ein sonst sehr stiller Junge fragte schließlich, ob denn die Eltern nicht wenigstens nach ihren Kindern gesucht und sich gesorgt hätten. Auf Wunsch der Schüler musste die Sage zweimal erzählt und unter verschiedenen Aspekten ausführlich besprochen werden.
Einen vorläufigen Höhepunkt der Epoche bedeuteten die Dinosaurierspuren in den Wesersandsteinbrüchen (Abb. 8, Dinosaurier in der Gegend des späteren Obernkirchen). Mehrere Schüler sammeln in ihrer Freizeit begeistert alles erreichbare, was mit Urzeitwesen in Zusammenhang steht. Manche 12jährige kennen sich bereits hervorragend mit Flugsauriern, Saurierfischen und Fleischfressern aus. Unbekannt blieben ihnen bis zur Epoche allerdings die Fährten von Iguanodonen, riesigen Pflanzenfressern, die in kleinen Gruppen träge durch den Uferschlamm in der Gegend des späteren Obernkirchen streiften. Auf einer Wanderung erforschte die Klasse daraufhin experimentell, wie Spuren im Uferschlamm entstehen, sich beim nächsten Hochwasser mit Sand füllen und schließlich unter wachsendem Erddruck versteinern.
Bevor die Weser in die Norddeutsche Tiefebene fließt, strömt sie an der Porta Westfalica durch die „Weserscharte" zwischen Wiehengebirge und Wesergebirge (Abb. 9, Bild eines Schülers zur Porta Westfalica).
Die Topographie wurde ausführliche besprochen, gezeichnet und auf Landkarten lokalisiert. Zum Ende der ersten Geographieepoche folgte noch ein kurzer Exkurs zum Wasserstraßenkreuz bei Minden, bei dem sich die meisten Schüler einfach nicht vorstellen konnten, dass riesige Transportschiffe zu Wasser eine Brücke über die Weser kreuzen.
(Abb. 10 - Bild eines Schülers zum Wasserstraßenkreuz) Damals ahnten nur der Lehrer und die Pädagogische Mitarbeiterin, dass fünf Monate später die Klasse während einer Klassenfahrt von der Kanalbrücke sowohl den Schiffen auf der Weser, als auch den Frachtern auf dem Kanal zuwinken würden.
Im späten Schuljahr folgte die zweite Erdkundeepoche, die kurz den Verlauf der Mittelweser und Unterweser behandeln sollte. Inzwischen hatten aber die Schüler begonnen, eigene Aufsätze zu schreiben und entwickelten beachtliche Neugier speziell zu allen Themen rund um die Weser, so dass der Unterrichtsverlauf eine eigene Dynamik bekam.
Durch sieben Stauwehre bleibt heute der Wasserpegel der Mittelweser ganzjährig ungefähr gleich, so dass Frachtschiffe problemlos zwischen Minden und Bremen fahren.
Flussbegradigungen ermöglichen zwar den Verkehr moderner Frachter, erhöhen aber gleichzeitig die Strömungsgeschwindigkeit mit vielen Folgen für die Flusslandschaft. Den Schülern bereitete es jedenfalls große Freude mit unterschiedlichen Herangehensweisen die Wirkungen von Buhnen auf die Strömung und das Flussbett zu überdenken und zu erforschen.
Schiffe werden um die Staustufen geschleust. Für Lachse, Aale oder Stinte auf ihren Laichzügen wäre dieser Weg aber versperrt, gäbe es keine Fischpässe (Abb. 12, Lachs und Aal). Zusammen mit ihrem Vater recherchierte also eine Schülerin ausführlich zum Thema Aale und Fischtreppen, verfasste einen Aufsatz und beschloss schließlich mit den Eltern, einen Aalteich im eigenen Garten anzulegen. Ihr fundierter und gut bebilderter Vortrag wurde sehr anschaulich ergänzt durch einen Mitschüler, der über reichen Erfahrungen beim Aalfang verfügt. Es war diese arbeitsame, informative konzentrierte Stimmung in der Klasse, die jetzt einen Jungen dazu bewog, um ein neues Epochenheft zu bitten, um alles bisher Erarbeitete noch einmal schöner abzuschreiben. Wochenlang arbeitete er daraufhin zuhause an seinem Kunstwerk, in dem der Unterrichtsstoff um viele Erlebnisberichte und eigens recherchierten Beiträge ergänzt wurde. Schließlich erlaubten ihm seine Eltern täglich nur noch wenige Stunden freiwilliger Schularbeiten, damit er weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnähme.
Einer Sage nach stammt der Pirat Klaus Störtebeker aus der Nähe von Verden, woran dort alljährlich mit einer Spende von Brot und Heringen erinnert wird. Als wegen sozialer Geschehnisse über gerechtes Teilen und Diebstahl zu sprechen war, bot es sich an, auf das Leben und die Geschichte der ‚Vitalienbrüder' auch in einer Erdkundeepoche einzugehen. Dieser anfänglich nur für wenige Minuten geplante sozialgeschichtliche Einschub in der Geographieepoche führte schließlich wegen ununterbrochener gespannter Nachfragen und vielen Schülerbeiträgen zu einem einwöchigen Exkurs mit dazu verfassten Aufsätzen, Tafelbild und Buchbesprechungen.
(Abb. 13, Karte der Unterweser).
Nördlich des Bremer Stauwehres fließt die Unterweser. Bis hierhin reichen die Auswirkungen von Ebbe und Flut der Nordsee. Das Phänomen Tidenhub kannten alle Schüler von ihren Erlebnissen am Nordseestrand und wussten manches darüber zu berichten. Deiche werden an der Unterweser vergleichsweise hoch angelegt, um auch vor Sturmfluten zu schützen. Die besondere Bedeutung von Poldern wurde ausführlich besprochen. Mit zunehmend besserer Wasserqualität finden sich auch besondere Tiere wieder in der Unterweser ein. Die nach jüngsten Zählungen über 30 Schweinswale in der Unterweser taten es allen ganz besonders an.
(Abb. 14, Schweinswale und Störtebeker auf Kaperfahrt)
Wie selbstverständlich diskutierte die Klasse ungefragt deren Schutz vor unachtsamen Motorbootfahrern und Fischern. Beispielsweise wurden während einer Regenpause besondere Warnschilder zum Wohle dieser Tiere entworfen. Viele hofften, in den Ferien einmal an der Unterweser einen Schweinswal zu entdecken.
Container veränderten den weltweiten Güteraustausch und die Arbeitsbedingungen vieler Menschen an der Unterweser grundlegend. Das wurde abschließend noch ausführlich am Beispiel Bremerhavens besprochen. So hätte die Epoche das geplante Ende gefunden, wenn nicht alle Schüler enttäuscht gerufen hätten, die Epoche könne noch nicht an der Küste enden!
Glücklicherweise gibt es nördlich der Ober-, Mittel- und Unterweser noch die Außenweser, ungefähr bis zu den Leuchttürmen „Roter Sand" und „Alte Weser" (Abb. 15, Leuchttürme und Containerfrachter). Die technischen Herausforderungen, die es bedeutete, solche Türme mitten in der Nordsee zu errichten faszinierte die Einen besonders. Andere Schüler schienen sich träumerisch schon auf ihre wohl verdienten Sommerferien zu freuen, als sie von den früheren Arbeitsbedingungen des Leuchtturmwärters und seines Gehilfen erfuhren, die früher für jeweils acht Wochen ununterbrochen Dienst in „Roter Sand" taten. Als wir während der Schuljahresabschluss- wanderung die etwa 1,80m hohe Kopie dieses Leuchtturmes in einem Vorgarten entdeckten, sprudelten aus allen Schülern begeistert viele Erkenntnisse zur Weser hervor. Die allen wichtigste Frage lautete aber: „ Welchen Fluss besprechen wir als nächstes?"