Beispiel 2: Vergangen ... oder wa?

Hier galten folgende Vorgaben:

Substantiv: Prior
Adjektiv: abnorm
Verb: stylen

Genre: skurrile Story

 

Vergangen ... oder wa?

Das kleine nordische Kloster lag nicht am Wege, weshalb nur wenige Reisende je Einlaß begehrten.

Und am Spätnachmittag des kalten und regnerischen Karfreitags anno domini 1144 war schon gar nicht mit Gästen zu rechnen. Kein vernünftiger Mensch hätte die Mühe auf sich genommen, den steilen, unwirtlichen Pfad zu dem abgelegenen alten Kloster zu erklimmen.

Deshalb nimmt es nicht Wunder, daß Bruder Tugiswind bei dem lauten, unverschämten Pochen an der schweren Tür des Torhauses sich vor Schreck an dem warmen Bier verschluckte, mit dem der den Bissen kargen Fastenbrotes hinabzuspülen versuchte. Wer, um des Heiligen Bonifatius willen, tat auf so unbotmäßige Weise seine Ankunft kund?

Erneutes Pochen!

„Ja! Ja“, ächzte der alte Mönch, „ich komme ja schon!“ Tugiswind eilte, so schnell es die Frostbeulen an den Zehen seiner nackten Füße zuließen, zur Pforte und öffnete die kleine Klappe an der Seite des eisenbeschlagenen Tores, welches normalerweise die Beschaulichkeit des Klosters von der Hast der Welt draußen abschirmte.

Zwinkernd blinzelte der Bruder aus seinen kurzsichtigen Augen nach draußen auf den ungeduldigen Ankömmling.
Was er sah, ließ die kümmerliche Rundhecke seines lichten grauen Haars, das die frische Tonsur säumte, zu Berge stehen.

„Allmächtiger Herr Jesus Christus und ihr Heiligen alle, steht uns bei“, flüsterte er mit versagender Stimme und bekreuzigte sich hastig im Schutz des – glücklicherweise – noch immer geschlossenen Tores.

„Hej, Alter“, tönte es ihm aus einem Mund entgegen, dessen Winkel jeweils von einem fingerlangen Eisennagel durchstochen waren. Von der Nase dieses entsetzlichen Geschöpfes baumelte ein Ring bis zur Oberlippe und die unsägliche Kleidung war so zerrissen, daß man an den unanständigsten Stellen das blasse Fleisch hervorschauen sah.

Das Wesen – menschlich zwar, doch welcher Art? – fuhr fort zu grölen:
„Sag ma, Alter, gibt`s in dem Schuppen hier Sprit? Ich hab`n totalen Brand, eh! Un habt ihr Bier un Zucker? Ich muß meine Perücke ma wieder styl`n! Deine könnt`s auch vertragen, Alter - ey!“
Mit diesen Worten, von denen Tugiswind rein gar nichts verstand, deutete das Geschöpf auf seine Haupteszier in Gestalt von sechs abnormen bunten Stacheln, die ihm vom Kopfe wegstanden.
„Mann!“, schrie das Wesen nun noch lauter, während es gegen das Tor trat, „wass`n nu, bisse taub oder wa?“
Dieser Ausbruch löste Tugiswinds Erstarrung: „Ich eile, den Prior zu holen“ keuchte er bebend, „harret hier einstweilen ... !“

„Wa`s los? Sag ma, red`st de chinesisch? Kapierste kein Deutsch, Alter?“

Doch Tugiswind eilte schon, den Prior zu holen, daß der Saum seiner härenen Kutte die dürren Knöchel peitschte.
Der Prior hatte schon viel Entsetzen gesehen in seinem langen Leben, aber als er des Grauens in Tugiswinds Augen gewahr wurde, der kein vernünftiges Wort hervorbrachte und immer nur: „Der Teufel! Der Teufel ...“, stammelte, raffte er seine Kutte und folgte dem zitternden Bruder Torwächter ohne Säumen und ohne unnützes Fragen.

Das Wesen stand noch immer da und begann, kaum daß es das Gesicht des Priors in dem kleinen Viereck der Klappe auftauchen sah, unbotmäßig zu brüllen: „Na, endlich! Und noch so`n Opa! Mann, wird auch Zeit! Ich hab` Durst, eh! Capisco, ihr Trottel?“

„Oh Herrgott! Satanas persönlich! Weiche von hinnen, Böser“, kreischte der Prior entsetzt und hielt sein abgegriffenes Holzkreuz durch die Klappe nach draußen.

Da begann das Wesen zu schimmern, wurde durchsichtig, und während es langsam verschwand, verklangen die unverständlichen Worte in der regennassen Dämmerung: „Scheiße! Warum weckst`n mich jetzt schon? Ich hatte so`n geilen Traum!“ Dann war die Gestalt verschwunden, und Stille breitete sich aus.

„Was war das“, flüsterte Tugiswind schließlich bebend und starrte auf das Nichts vor dem Tor, das eben noch ein ungeheuerliches Etwas gewesen war.

„Nichts“, sagte der Prior streng, „gar nichts war das. Vergiss es! Der Böse hat uns mit einem Wahnbild genarrt. Bete zehn ‚Vaterunser‘ und zwanzig ‚Gebenedeiet seist Du Maria‘ – und vergiß nicht: In Wahrheit war da nichts!“
Der Prior wandte sich ab und schlurfte hastig davon. Am Tor zur Kapelle drehte er sich noch einmal um und wiederholte nachdrücklich, fast drohend, bevor er in dem kleinen Gotteshaus verschwand:
„Vergiß es ... !“

Doch Tugiswind vergaß es nie, und manchmal war ihm, als müsse er über eine verpasste Gelegenheit trauern.

Rosemai M. Schmidt