ADLER

Gekürzte Fassung aus: „Die Bildersprache des Tierkreises" von Frits H. Julius, J.CH. Mellinger Verlag 1991

Man achte nur auf die erhabene Ruhe, mit der der Adler hoch droben auf einsamer Felsspitze sitzt, während seine Klauen das Gestein fest umklammern. Die kalten Augen blicken aus dem vertrockneten scharfen Kopf in weite Ferne. Aus seiner ganzen Gestalt, der aufgerichteten Haltung, den hochgeschobenen Flügelschultern spricht der mächtige Drang, der ihn der Erde entführen will.

Wenn der Adler auf den Boden kommt und zu laufen versucht, wird es ein sonderbares ungeschicktes Gehumpel. Und obgleich er ziemlich rasch vorankommt, sieht man doch sofort, dass er auf der Erde am allerwenigsten zuhause ist.

Wenn das Adlerpaar am frühen Morgen auf Jagd geht, gleitet es von seinem hochgelegenen Horst hernieder und streicht vorbei an Abhängen und Tälern. So durchsuchen die Tiere ein Riesengebiet. Nichts, was sich bewegt, entgeht ihrem unfehlbaren Blick. Ist es ein kleines Tier, das da vorüberschießt, dann ergreift den Vogel eine schreckliche Veränderung. Die Flügel werden schmal am Körper zusammengefaltet und nach hinten ge­richtet, und wie ein Stein stürzt er mit heftig rauschendem Gefieder herab, bis er, die Fänge vorgestreckt, sein Opfer trifft. Sie krallen sich in das Fell, der krumme, scharfe Schnabel hackt auf Kopf und Augen seiner Beute los, bis deren Leben völlig erloschen ist. Dann bleibt der Vogel einen Augen­blick voller Stolz stehen, den Kopf voraus, die Halsfedern nach hinten auf­gerichtet, und stößt einen grellen Siegesschrei aus. Eine solche wilde Jagd erfordert eine unerhörte Richtkraft.

Dann aber erhebt sich das Tier wieder mit schwerem Flügelschlag und trägt seine Last nach einem hohen, einsamen Platz. Stück für Stück, am Kopf beginnend, wird von der Beute losgerissen und langsam hinunter­geschlungen. Man erkennt aus allem, dass das Element des Adlers der freie Raum ist. Das Abstreichen in die Niederungen der Erde ist ihm wie ein anstrengender Besuch. Daher trägt er seine Beute auch so schnell wie mög­lich mit sich empor in die Höhe. Die Beutejagd des Adlers ist, verglichen mit der des Löwen, mehr ein Raub, denn er begibt sich dabei in ein fremdes Gebiet und nimmt seine Beute mit hinauf in seine eigene Welt.

In seinem Horst, inmitten einer unzugäng­lichen Felswand, legt das Weibchen oft mehrere Eier. Kaum sind die kahlen, nässlichen Jungen aus der Schale gekrochen, bringen die Eltern auch schon tote Tier herangetragen. Und dann wird mit großer Gier gefressen; trotz­dem bleiben doch viele Reste der Mahlzeit im Nest herumliegen, wodurch eine abscheuliche Zersetzungs-Atmosphäre entsteht. Kaum ist eines der Jungen etwas kräftiger als die anderen, so greift es diese an und tötet sie oder versucht, sie aus dem Horst zu werfen. Immer wächst nur ein einziges Junges heran. Je älter das Adlerjunge wird, umso öfter und länger lassen es die Eltern allein, so dass es mitunter Tage dauert, bevor sie wieder neues Futter heran­tragen. Nach einigen Monaten unternimmt es seinen ersten Flug, und damit beginnt ein herumschweifendes Dasein von mehreren Jahren. Das Leben eines Adlers ist eigentlich gekennzeichnet durch strenge Absonderung und Einsamkeit. Das einzige, was dem widerspricht, ist die Treue, die die Paare jahrelang zusammenhält.