Die vier Fälle
Ein Beitrag von Franka Paul
Wie können die vier Fälle der deutschen Sprache als interessantes, anschauliches, lebendiges Phänomen wahrgenommen werden? Wie können ihre unterschiedlichen Qualitäten erlebbar werden?
Zur Erkundung des Phänomens folgte ich den Anregungen aus Der Sprachbau als Kunstwerk. Grammatik im Rahmen der Waldorfpädagogik von Erika Dühnfort.
3. Schuljahr: Das Phänomen der Wandelbarkeit von Nomen
Den Anregungen Dühnforts folgend schrieb ich verschiedene, vierfach formulierte Rätselfragen:
(1) Wer bringt Regen, Wolken und Wind?
(2) Wessen Blätter liebt wohl jedes Kind?
(3) Wem verdanken wir manch' bunte Allee?
(4) Wen verabschieden wir mit dem ersten Schnee?
Inhaltlich geht es um den Herbst, die grammatikalisch richtigen Antworten lauten:
(1) der Herbst, (2) die Blätter des Herbstes, (3) dem Herbst, (4) den Herbst.
Schon in der Sprachkunde der 3. Klasse können solche Rätsel gestellt und von den Kindern aufgrund ihres natürlichen Sprachempfindens grammatikalisch korrekt gelöst werden. Kinder, die deutsch als Zweitsprache sprechen, zeigen an dieser Stelle unter Umständen Unsicherheiten. Die spielerische Beschäftigung mit den Rätseln kann dazu beitragen, dass sich diese Kinder von sich aus aufmerksam einhören in die Verwendung der vier Fälle und nach und nach mehr Sicherheit in der Anwendung bekommen.
Es bietet sich an, die Betrachtung der vier Fälle mit männlichen Nomen zu beginnen, da hier die Ähnlichkeit zwischen Fragewort und Artikel am deutlichsten ist.
Hier einige Rätsel in Reimform (männliches Nomen)
Wer ist das Hauptwerkzeug im Unterricht?
Wessen Anwesenheit ist im Unterricht Pflicht?
Wem steht die stumpfe Spitze nicht?
Wen gibt es in Farben von dunkel bist Licht?
(Der Stift / die Anwesenheit des Stiftes / dem Stift / den Stift)
Wer folgt dem Menschen auf Schritt und Tritt?
Wessen Leine nimmt man dabei mit?
Wem geben wir einen Platz in unserem Heim?
Wen erziehen wir, dass er mag folgsam sein?
(Der Hund / die Leine des Hundes / dem Hund / den Hund)
Wer endet spätestens mit Schulbeginn?
Wessen Ende finden manche schlimm?
Wem verdanken wir das Sonnen am Strand?
Wen verbringen manche Menschen in fernem Land?
(Der Urlaub / das Ende des Urlaubs / dem Urlaub / den Urlaub)
Wer ist es, der immer zu mir hält?
Wessen Treue ist nicht bezahlbar mit Geld?
Wem schreib' ich Postkarten aus der Ferne?
Wen hab' ich von allen besonders gerne?
(Der Freund / die Treue des Freundes / dem Freund / den Freund)
Weitere Rätsel ohne Reim (männliches Nomen)
Wer braucht die Luft, um sich fortzubewegen?
Wessen Kleid kann kein Schneider nähen?
Wem helfen wir, wenn er aus seinem Hause fiel?
Wen hören wir singen, obwohl er kein Mensch ist?
(Der Vogel / das Kleid des Vogels / dem Vogel / den Vogel)
Wer hat im Klassenraum seinen festen Platz?
Wessen Inhalt birgt so manchen Schatz?
Wem übergibt man morgens Essen und Trinken?
Wen bekommt man zur Einschulung geschenkt?
(Der Schulranzen / der Inhalt des Schulranzens / dem Schulranzen / den Schulranzen)
Schnell werden die Schülerinnen und Schüler das Prinzip der Veränderungen erfasst haben und zunehmend sicherer werden beim Antworten auf die veschiedenen Rätselfragen. Nun können Rätsel mit sächlichen und zuletzt mit weiblichen Nomen dazugenommen werden. Hier merken wir schnell, dass wir uns nur teilweise noch auf den Gleichklang von Fragewort und Artikel verlassen können und ansonsten auf unser Sprachgefühl angewiesen sind:
Wer ist viereckig und durchsichtig? Das Fenster.
Wessen Glas ist nicht zum Trinken da? Das Glas des Fensters.
Wem verdanken wir das Sonnenlicht im Klassenzimmer? Dem Fenster.
Wen müssen die Hausmeister endlich reparieren? Das Fenster.
Wer ist schwarz und hat Flügel? Die Tafel.
Wessen Oberfläche erhält jeden Tag einen neuen Anstrich? Die Oberfläche der Tafel.
Wem rücken wir täglich mit Wasser und Schwamm zu Leibe? Der Tafel.
Wen können wir im Klassenzimmer nicht entbehren? Die Tafel.
Die Einsicht, dass Namenwörter mitsamt ihrem Begleiter (Artikel) wandelbar sind und dass diese Verwandlungen unterschiedlich stark sein können, reicht als erste Annäherung an das Phänomen der vier Fälle im dritten Schuljahr aus. Worauf es ankommt: die Freude am Entdecken sprachlicher Zusammenhänge und die Ahnung von einem gesetzmäßigen Gerüst der Sprache, das unserer lebendigen Sprachverwendung die notwendige Klarheit gibt.
5. Schuljahr: Die Qualitäten der vier Fälle
Nachdem wir auch im 5. Schuljahr gemeinsam einige der o. g. Rätsel gelöst hatten, regte ich die Schülerinnen und Schüler an, selbst solche Rätsel zu erstellen (ohne Reime). Dabei gab ich zunächst männliche Nomen vor, später erstellten wir Rätsel auch zu sächlichen und weiblichen Nomen.
Im Gegensatz zur intuitiven Beschäftigung mit den vier Fällen im 3. Schuljahr ging es jetzt darum, selbstgestaltend mit der Verwandlung der Nomen durch die vier Fälle umzugehen. Für die Schülerinnen und Schüler waren zwei Dinge zunächst sehr ungewohnt:
1. Die Antwort immer schon mitzudenken, wenn man sich die Frage ausdenkt.
2. Die Formulierung der Frage sehr bewusst vorzunemen, d. h. sich auf vier ganz bestimmte Fragewörter zu beschränken.
Die Schülerinnen und Schüler trainierten das in Einzel- oder Partnerarbeit und stellten sich ihre Ergebnisse in kleinen Gruppen oder im Plenum vor. Hier einige Beispiele von Schülern:
Wer malt gerne? Der Pinsel.
Wessen Haare wäscht man nie mit Shampoo? Die Haare des Pinsels.
Mit wem malen wir manchmal? Mit dem Pinsel.
Wen müssen wir danach auswaschen? Den Pinsel.
Wer macht einen Knall, wenn er platzt? Der Luftballon.
Wessen Haut fällt auf den Boden, wenn er geplatzt ist? Die Haut des Luftballons.
Wem verdanken wir manch' Müll im Meer? Dem Luftballon.
Wen blasen wir gerne auf? Den Luftballon.
Wer produziert CO2? Der Verkehr.
Wessen Folgen sieht man überall? Die Folgen des Verkehrs.
Wem "verdanken" wir den Lärm draußen? Dem Verkehr.
Wen mögen wir nicht, wenn wir in den Urlaub fahren? Den Verkehr.
Auf diese Weise vertraut mit der Wandelbarkeit von Nomen, die sich je nach Genus des Nomens unterschiedlich stark zeigt, fragten wir nach der Qualität der verschiedenen Fälle:
1. Fall: Was erfragen wir, wenn wir eine Wer-Frage stellen?
Ich stellte lauter Wer-Fragen und zeigte dabei auf Gegenstände oder Menschen im Klassenzimmer: Wer ist das? Der Johann. Wer (oder was) ist das? Das Fenster. Wer (oder was) ist das? Die Tür. Rasch wurde deutlich:
Mit der Frage "Wer (oder was) ist das?" erfragen wir den Namen. Wir nennen diesen Fall den Namensfall.
2. Fall: Was erfragen wir, wenn wir eine Wessen-Frage stellen?
Ich stellte lauter Wessen-Fragen und zeigte dabei ebenfalls auf Dinge im Klassenzimmer: Wessen Lehne ist das? Die Lehne des Stuhls. Wessen Griff ist das? Der Griff des Fensters. Wessen Gitarre ist das? Die Gitarre der Lehrerin. Die Schülerinnen und Schüler bemerkten, dass wir nach etwas fragten, was zu etwas oder jemandem gehört. Um auf die von Dühnfort vorgeschlagene Benennung "Stammfall" hinzuführen, fragte ich einen Schüler: "Wessen Sohn bist du?" Er antwortete: "Der Sohn meiner Eltern." Ich fragte weiter: "Wessen Enkelsohn bist du?" "Der Enkelsohn meiner Großeltern." Ah, da geht es also um Abstammung.
Mit der Frage "Wessen?" erfragen wir, welcher Anteil zu etwas oder jemandem gehört. Wir nennen diesen Fall den Stammfall.
3. Fall: Um der Qualität des Wem-Falls nachzugehen, müssen wir auf die Verben schauen.
Wem gehört der Schulranzen? Wem gibst du dein Heft? Wem verdankst du das? Wem nimmst du die Jacke ab? Wem schreibt Anna einen Brief? Wem folgst du? Wem gibst du zur Begrüßung die Hand? Gemeinsam sammelten wir Beispiele. Ich schrieb die dazugehörigen Verben an die Tafel.
4. Fall: Ebenso verfuhren wir mit den Wen-Fragen:
Wen (oder was) bearbeiten wir im Heft? Wen (oder was) fegt der Fegedienst nach Unterrichtsschluss? Wen (oder was) gießt der Pflanzendienst täglich? Wen besuchst du am Wochenende? Wen bittet er um Hilfe? Wen (oder was) kickst du ins Tor? Wen (oder was) baut der Maurer?
Im Vergleich der beiden Verben-Sammlungen gelang es einigen Schülerinnen und Schülern, einen qualitativen Unterschied wahrzunehmen: Die Verben der Wem-Fragen haben häufig mit Interaktion zu tun, die Verben der Wen-Fragen häufig mit praktischem Tätigsein. So gelangten wir zu den von Dühnfort vorgeschlagenen Begriffen:
Mit der Frage "Wem (oder was)?" erfragen wir häufig, was zwischen Menschen oder Dingen geschieht. Wir nennen diesen Fall den Gebe- und Nehme-Fall.
Mit der Frage "Wen (oder was)?" erfragen wir häufig etwas, das mit praktischem Tätigsein zu tun hat. Wir nennen ihn den Bewirkens-Fall.
Auf diese Weise haben wir den vier Fällen Namen gegeben, die ihren unterschiedlichen, für uns nachvollziehbar gewordenen Qualitäten entsprechen. Das für viele Menschen abstrakte und komplexe Thema der vier Fälle war auf diese Weise für die Schülerinnen und Schüler konkret erfahrbar und handhabbar geworden. Welche Feinheiten sprachlichen Ausdrucks sich in der Grammatik einer Sprache spiegeln bzw. welche Nuancierungen die grammatikalisch korrekte Sprachverwendung ermöglicht, blieb unausgesprochen, aber sicherlich für die meisten Schülerinnen und Schüler eine eindrückliche Erfahrung.
Die hier aufgeführten Begriffe für die vier Fälle entsprechen übrigens ziemlich genau den lateinischen Begriffen Nominativ, Genitiv und Dativ. Beim Akkusativ gab es bereits bei der Übersetzung vom Griechischen ins Lateinische eine Ungenauigkeit, so dass das Bewirkte zur Anklage wurde.