Runen-Epoche
Ein Beitrag von Annerose Baumeister (Freie Waldorfschule Landsberg am Lech)
RUNENKLÄNGE EINER VIERTEN KLASSE
Zeit ist’s zu raunen auf dem Rednerstuhl …
Von Runen hört ich reden, sie verrieten die Deutung …
Runen sollst du finden und rätliche Stäbe …
Dann zeigt sich’s recht, wenn du nach Runen fragst …
Wer Verstand hat, bleibt stumm.
So tönen und klingen die Verszeilen des Liedes zur Entstehung der Runen aus der „Edda“, der Schöpfungsgeschichte und dem Götterwirken der nordisch-germanischen Mythologie. Mit den Runen beschäftigten sich in der Zeit des Corona-Lockdowns nach den Osterferien die Schüler der vierten Klasse und sie hörten dazu die Geschichten von der Weltenesche Yggdrasil (Aquarell für das Runenheft-Deckblatt) und dem Allvater Odin, vom Hammer schwingenden Donnergott Thor und von Loki, dem luziferisch alles durcheinander wirbelnden Wesens.
Wollten die Menschen der früheren Zeiten für ihr Leben die Götter um Rat bitten, warfen sie Buchenstäbe auf den Boden. Dieses Gebilde nannten sie „Runen“ und der Runenmeister hatte dann die Aufgabe, die Geheimnisse zu deuten, die ihm die Zauberzeichen zuraunten. Nach einer feierlichen Zeremonie erbaten die Germanen dafür den Schutz der Göttermächte.
Die einzelnen Runen als solche dienten bald zur Bezeichnung verschiedener Wörter, bis die Menschen dann anfingen, sie direkt für Laute zu verwenden und damit Wörter zu schreiben und sich das „FUTHARK -Alphabet“ entwickelte. Die Buchstaben urständen also in den Buchenstäben.
Welche Freude es den Viertklässlern bereitete, jedes Epochenblatt von allen Seiten anzukokeln und eine Schrift kennenzulernen, die nicht von jedem so einfach zu entziffern ist! Eine „Geheimschrift“ in der Zeit um das 10. Lebensjahr benützen zu können, wo sich die Kinder gerade nach dem „Rubikon“ allmählich loslösen von der sie umhüllenden Erwachsenenwelt und sich in ihrem eigenen Ich in ihrer Welt einfinden, ist das Höchste: man pflegt ja so seine Geheimnisse, die man nicht mehr mit jedermann teilen möchte.
In den Osterferien hatten die Schüler die Aufgabe, nach einem geeigneten Buchenast-Runenstab zu suchen, auf den dann mit einem Messer (eine Schülerin benutzte dafür sogar ein Skalpell!) der Vorname in Runenschrift eingeritzt wurde. So einfach war das alles nicht, denn zuerst galt es einmal, sich kundig zu machen, wie denn eigentlich eine Buche aussieht und wo es denn bei uns überhaupt Buchen gibt. Wenn man endlich eine gefunden hatte, hing der passende Ast vielleicht zu hoch oder man musste feststellen, dass es sehr schlau gewesen wäre, eine kleine Säge mitzunehmen. Und hatte man eine Säge im Rucksack dabei, machte man die Erfahrung, dass es ganz schön anstrengend ist, einen Ast abzusägen und dass es mit einer stumpfen Säge sehr lange dauerte. Manche Buchenäste waren so groß, dass sie nur mit Müh‘ und Not geschleppt und gar nicht auf dem Fahrrad transportiert werden konnten. Manch einer hatte es leicht, wenn die Buche ganz in der Nähe stand und wenn man mit ihr schon seit frühester Kindheit Freundschaft geschlossen hatte, weil ihre Äste die Schaukel ins Kinder-Träumeland schwingen ließen. Wer keinen Buchenast gefunden hat, meinte, ein alter Wanderstab täte es auch. Aber dann würden unsere Buchstaben ja „Wanderstaben“ heißen!
Endlich war der „Lock-down“ wieder vorbei und voller Stolz brachten die Schüler der vierten Klasse ihre Werke mit in die Schule. Im Halbkreis stehend rezitierten sie das Lied „Die Entstehung der Runen“. Dabei hielten sie den Buchenstab senkrecht vor sich und ließen ihn bei jedem Stabreim ein Stück nach unten fallen, um ihm dann geistesgegenwärtig blitzschnell nachzugreifen, bevor er auf den Boden fiel. Manchmal tat es natürlich einen richtigen Knall, aber das weckte die noch morgenmüden Geister mit einem Donnerschlag auf.
In der Schulwerkstatt schreinerten die Viertklässler ein Holzgestell, das als Halterung für die Buchenstäbe dienen sollte. Durch eine Bohrung wurden Lederbänder geführt, mit denen die Stäbe aufgehängt wurden. Ein Klangspiel steht nun auf der Wiese und bei jedem Wind und Wetter raunt es rund um die Welt Runenklänge der Mädchen und Buben aus der vierten Klasse, auch dann noch, wenn wir alle nach Corona-Zeiten wieder selbst dürfen tönen, singen und klingen.