Wilhelm Heinrich Preuß, ein Spiegelbild Darwins
Gekürzte Fassung aus dem Buch: „Geist und Stoff“, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1980
Eine Lebensskizze (1843 - 1909)
Als Preuß am 12. Februar 1909 starb, schenkte die Wissenschaft seinem Tod keine Beachtung. Umso erstaunlicher ist es, dass Rudolf Steiner schon fünf Jahre nach dem Tode von Preuß dem »wenig gekannten Denker von Elsfleth« große Bedeutung beimaß. In den Anschauungen über Natur und Evolution erscheint Preuß gleichsam als ein Spiegelbild Charles Darwins. Dies wird sehr deutlich, wenn man im Folgebeitrag seine Gedankengänge zur Kenntnis nimmt.
Es ist heute bereits sehr kompliziert geworden, die Veröffentlichungen aus der Feder von Preuß zusammenzutragen. Noch schwieriger ist es, die Spuren seines Lebensganges aufzufinden.
An Michaeli 1843, also am 29.September, wurde Wilhelm Heinrich Preuß in Garlstorf in der Lüneburger Heide geboren. Sein Vater war der dortige Dorfschulmeister. Ihm und dem evangelischen Pfarrer von Salzhausen, einem kleinen Städtchen an der Luhe, verdankte Preuß seine Erziehung und Bildung. Er muss ein ungewöhnlich begabter junger Mensch gewesen sein. Denn erst in seinem achtzehnten Lebensjahr stehend, erhielt er eine Anstellung als Hauslehrer in dem Bothmerschen Hause in Bennemühlen bei Mellendorf, nördlich von Hannover. Im Herbst 1863 trat er in das Lüneburger Lehrerseminar ein, das er nach einem einjährigen Kursus mit einem hervorragenden Zeugnis am 23.September 1864 verließ. Das »seminaristische Abgangszeugnis« verrät uns, was man damals auf einer Lehrerbildungsanstalt methodisch lernte: Geistliche Lehre, Biblische Geschichte, Weltkunde, Rechnen, Sprachlehre, Schönschreiben, Gesang und Orgelspiel. Preuß muss sich »nebenbei« aber noch in ganz anderen Fächern gebildet haben, denn nach der üblichen »Kandidatenzeit« ging er nach Winsen an der Luhe, um dort an der Höheren Töchterschule als Lehrer für Naturwissenschaften tätig zu werden. Um sich weiterbilden zu können, kam er auf die Idee, Privatunterricht »auszutauschen«.
Er gab Privatstunden, um sich mit dem verdienten Geld selber naturwissenschaftlich-mathematische Unterweisung von erfahrenen Kollegen geben zu lassen. Er strebte mit aller Energie danach, später einmal an der Göttinger Universität wenigstens kurz studieren zu können. Bei der Vorbereitung auf Göttingen erkannte er, wie wichtig es war, für ein naturwissenschaftliches Studium sich die Kenntnis der Werke der großen englischen Naturwissenschaftler, vor allem Darwins, in der Originalsprache anzueignen. Er beschloss daher, gründlich englisch zu lernen und tat das auf eine Weise, die ebenso ungewöhnlich ist wie charakteristisch für Preuß. In den Ferien schloss er sich einfach vier Wochen lang in sein Zimmer ein, ließ sich das Essen bringen, wollte niemanden sehen und vertiefte sich ununterbrochen in das Erlernen der englischen Sprache, von der er vorher kein Wort gekannt hatte. Als er sein freiwilliges Gefängnis verließ, konnte er besser englisch lesen und schreiben, als so mancher, der sich jahrelang darum bemüht und Unterricht erhalten hatte. Diese kleine Geschichte aus seinem Leben lässt uns etwas erahnen von seiner Zielstrebigkeit, seiner Selbstdisziplin und seinem phänomenalen Gedächtnis, für das er bei allen seinen Bekannten bis ins Alter berühmt war.
Im Sommersemester 1867 verwirklichte Preuß den Wunschtraum seiner Jugend. Er ließ sich an der Universität Göttingen immatrikulieren. Übungen und Vorlesungen in Mathematik, Experimentalphysik, Elektrizitätslehre und Deutsche Geschichte (bei dem berühmten Waitz) wurden belegt. Wie ihm der Vorstand des Mathematisch-physikalischen Seminars »mit Vergnügen« bezeugte, hat er mit »ausgezeichnetem Fleiß und tätigem Interesse« gearbeitet. Schon im nächsten Jahr finden wir ihn als Lehrer der Naturwissenschaft an der Höheren Töchterschule in Vegesack an der Unterweser, wo er die Dreizehn- bis Sechzehnjährigen in Zoologie, Botanik, Physik, Mineralogie und Chemie unterrichtete.
Er scheint jedoch danach getrachtet zu haben, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Jedenfalls ersuchte er im Herbst 1868 die »Lehrerprüfungskommission« der Hansestadt Bremen, ihn einer rigorosen Fachprüfung in Mathematik zu unterziehen. Am 16. und 17. November wurde er examiniert und erhielt am 30. Dezember 1868 die Berechtigung, Mathematik in »allen Klassen Höherer Lehranstalten« unterrichten zu dürfen. Eine Anstellung in Bremen erhielt er aber nicht, - falls er darauf gehofft haben sollte. Bis zum März 1869 blieb er noch in Vegesack, das er zum Bedauern von Eltern und Kollegen aus nicht näher bekannten Gründen verließ. Sein Vegesacker Schuldirektor bescheinigte ihm, »dass er durch die Wärme seines Vortrags wie durch anregende Methode bedeutende Erfolge erzielte«, und fügte hinzu: »Dabei will ich nicht unerwähnt lassen, dass Herr Preuß sich durch große Vielseitigkeit seines Wissens hervortat, bei seinen Vorgesetzten und beim Publikum wegen seines umgänglichen Wesens und der Ehrenhaftigkeit seines Charakters in allgemeiner Achtung stand und dass sein Abgang von der Höheren Töchterschule ungemeines Bedauern erregte.«
Er ging Ostern 1869 als »Hauptlehrer« an die »Landwirtschaftliche Lehranstalt« nach Herford, wo er bis zum Frühjahr 1870 Mathematik, Physik, Mineralogie und Zoologie unterrichtet. Schon in der Wahl der Fächer sowohl in Vegesack wie auch in Herford zeigen sich die besonderen Interessen von Preuß. Aber es hielt ihn nicht in der Landwirtschaftlichen Lehranstalt. Er folgte einem Ruf an die Navigationsschule des Großherzogtums Oldenburg in Elsfleth.
Elsfleth, damals eine kleine Stadt von 2000 Einwohnern, unterhalb der Mündung des träge dahin fließenden Flüsschens Hunte gelegen, bot für Preuß keinerlei wissenschaftliche oder kulturelle Anregungen. Es gab dort um 1900 neben der Navigationsschule für Seeleute nur eine Höhere Bürgerschule, ein Hobel- und Sägewerk, sowie eine Schwellenimprägnieranstalt.
Die Welt, in der Wilhelm Preuß nach 1870 sein Leben verbrachte, war also nicht nur beengt und klein, sie bot auch keine Aufstiegs- und Entfaltungsmöglichkeiten für ihn. In Elsfleth gab es nicht einmal eine umfangreiche öffentliche Bibliothek. Umso verblüffender sind die profunden, auf dem letzten Stand des Wissens gegründeten Kenntnisse des Navigationslehrers Preuß. Er hat nie eine große Reise gemacht, keine fremden Länder oder bedeutenden Persönlichkeiten kennen gelernt, keine persönlichen Verbindungen zu den Koryphäen der Naturwissenschaften seiner Zeit knüpfen können. Sein bescheidener, enger Daseinskreis verbot ihm das alles. Aber er wurde nie müde, seinen Bildungshorizont zu erweitern. »Mit Glücksgütern war er nie gesegnet«, schrieb seine Tochter Emilie noch 1943 in der Erinnerung an ihren Vater (Preuß hatte vier Kinder). »Meine Mutter, die sehr viel Verständnis für sein großes Wissen hatte, war doch oft entsetzt, wenn stets neue Bücherpakete anlangten. Dann tröstete er sie: 'ach Mama, es wird schon wieder was kommen', und schon kam das Honorar eines Zeitungsaufsatzes oder sonst etwas.«
So eingeschränkt auch sein Lebenskreis war, seine persönlichen Schüler, die vielen Kapitäne und Seeleute auf den Ozeanen, fühlten sich ihm dankbar verbunden und brachten ihm, sobald sie Landurlaub machten, den Atem der weiten Welt in sein kleines Haus.
Er war ein stets fröhlicher Mensch, warmherzig, dem Leben zugewandt und im schönsten Sinne ein »Original«. In einem seiner späten, ungedruckten Aphorismen, den er »Mensch, Schicksal, Glück« überschrieb, heißt es:
»Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann, - in gewissem Sinne wohl. Und man wird in der Jugend guttun, sich ernstlich zu einem Berufe vorzubereiten, falls man nicht in der glücklichen Lage ist, als geborener Bankier existieren zu können. Wenn aber auch die Vorbereitung nach jeder Richtung hin fleißig und umfassend gewesen ist, so hat man doch noch etwas Glück vonnöten, um das Schicksal zu machen. - Es geht oft wie in der Ernte: Das Feld war gut bestellt, aber die Schnitter wollten nicht kommen.«
Es war ihm in seinem Schicksal nicht gegeben, solches Glück zu finden.
Aber seine Saat ist doch nicht nur auf steinigen Boden gefallen. Sie sollte bald schon in der Weiterentwicklung einer goetheanistischen Naturwissenschaft aufgehen.
Renate Riemeck