Metamorphose Mensch & Tier

Ein Beitrag von Christoph Hueck (freier Dozent an verschiedenen Waldorf-Ausbildungsstätten)

Rudolf Steiner sah in Goethes Metamorphosegedanke den kulturgeschichtlichen Beginn eines exakten geistigen Erkennens, das zwar von der sinnlichen Beobachtung ausgeht, sich aber über diese erhebt und rein geistige Inhalte innerlich anschaut. Dieses Anschauen beruht auf innerer Tätigkeit, es ist vom Denkenden selbst erzeugt und daher vollkommen durchsichtig. Zugleich erfasst es die geistigen Kräfte, die in der lebendigen Natur, z.B. in der Verwandlung der Blattformen einer Pflanze wirksam sind.

 

Die Blätter, die von unten nach oben am Stengel einer einjährigen Blütenpflanze (hier: Knoblauchsrauke, Alliaria petiolata) erscheinen, zeigen eine charakteristische Formverwandlung. Eine ähnliche Veränderung der Blattformen kann man bei vielen einjährigen Blütenpflanzen beobachten. Trotz der Verschiedenheit liegt den einzelnen Formen ein gemeinsamer Typus zugrunde. Dieser kann als ein »sinnlich-übersinnliches« Element geistig angeschaut werden, wann man die Veränderung der Blattformen in beweglichem Vorstellen nachvollzieht.

 

Die Gänsedistel (Sonchus oleraceus) zeigt vom Nieder- zum Hochblatt eine vollkommene Umkehrung der Formbildung (unten rechts) mit einer dazwischen liegenden reichen Entfaltung und Verwandlung. Auch an diesem Beispiel kann die Beweglichkeit des Vorstellens in innerem Nachvollzug
geübt und erlebt werden.

 

Am Rainkohl (Lapsana communis) kann beobachtet werden, dass die Metamorphose der Blätter am Stängel (vom Nieder- zum Hochblatt) in einer Richtung verläuft, die gegenläufig zur Metamorphose eines einzelnen Blattes ist.

 

Bei der Pfingstrose (Paeonia) kann man die Metamorphose von den Stängel- zu den Kelch und Blüten- bis zu den Fruchtblättern (Staubgefäße)
nachvollziehen.

 

Schiller meinte, dass Goethes »Urpflanze« lediglich eine Idee sei. Goethe dagegen beharrte darauf, dass er diese Idee »mit Augen sehen« könne. Für Rudolf Steiner stellte dies den Ausgangspunkt eines »Sehens mit Geistesaugen« dar, welches die Welt der Ideen als ebenso wirklich wahrnimmt, wie die sinnlichen Augen die physische.

 

Metamorphose findet sich zum Beispiel auch bei den menschlichen Wirbelknochen. Der einzelne Wirbel ist - wie die ganze menschliche Gestalt - funktionell dreigliedrig: Der hohle Wirbelkanal schützt das in ihm enthaltene Rückenmark, wie der Schädel das Gehirn; der massive Wirbelkörper stützt den Körper wie die Beine bzw. die Wirbelsäule als Ganzes; und die Wirbelfortsätze dienen als Ansätze der Muskulatur der Bewegung, wie auch der ganze Leib beweglich ist. Der relative Anteil dieser Funktionen verändert sich von unten nach oben.

Die Bedeutung der Aufrichte. Der Vergleich eines Menschen- mit einem Schimpansenskelett zeigt, dass der Kopf und die Hände des Menschen der Einwirkung der Schwere enthoben und aus dem direkten Kontakt mit der physischen Umwelt befreit sind. Die Aufrichte führt zur Rückbildung der Hände und des Gesichtsschädels. Durch sie kann der Mensch ein waches, der Welt gegenüberstehendes Bewusstsein entwickeln und ein Handeln, das aus inneren Impulsen gestaltet wird. Der Affe kann als ein in die Schwere gesunkener Mensch angesehen werden.

 

Der Mensch zwischen Himmel und Erde. Der Mensch hat ein deutlich dreigliedriges Wesen. Mit den beiden Polen seines Bewusstseins und seiner
materiellen Existenz steht er zwischen der Lichtwelt des Kosmos und den Kräften der Erde. In seinem Fühlen und Handeln bildet er ein von innen
gestaltetes Verhältnis zu seiner sozialen und natürlichen Umgebung. Die Kugelform des Kopfes ist ein Abbild des sphärischen Kosmos, die Glieder ein Bild der radial wirkenden Schwerkraft, der Rumpf ein solches des zwischen beiden Polen vermittelnden rhythmischen Lebens.

 

Der Schädel des Menschen bleibt der Urform am nächsten. Die Schädel des Menschen und der Affen entwickeln sich aus embryonal ähnlichen Formen. Der erwachsene Menschenkopf bleibt der Kugelform des embryonalen Schädels am ähnlichsten, während sich die Affenschädel durch die starke Ausbildung der spezialisierten Kieferregion von dieser Form entfernen. Durch die unspezialisierte Gehirnregion behält der Mensch sein Leben lang das universelle Lernpotential der Kindheit, während die Affen mit der Geschlechtsreife in weitgehend instinkthaftes Verhalten »einrasten«.

 

Die Entwicklung eines Schimpansen zeigt die mit dem Alter zunehmende Entfernung von der zunächst noch menschenähnlichen Form.

 

[Exponate:] Arm und Hand des Menschen verkörpern das Urbild. Im Vergleich zu den Gliedern der Tiere ist die Hand des Menschen unspezialisiert und
kann deshalb von inneren Impulsen geleitet werden. Die spezialisierten Gliedmaßen der Tiere sind an bestimmte Umwelten angepasst und insofern
von außen geformt. Die Tiere können nur begrenzte Tätigkeiten ausüben: Pferd - laufen, Affe - klettern (u.a.), Adler und Flughund - fliegen, Seekuh
- schwimmen. Der Mensch kann durch seine unspezialisierte Gliedmaße ein universelles Potential verwirklichen.

 

[Poster:] Arm und Hand des Menschen sind dem allgemeinen Bauplan (Typus) der Wirbeltiergliedmaßen am ähnlichsten. Das universelle Urbild, das
den tierischen Gliedmaßen zugrunde liegt, erscheint also im Menschen leiblich verkörpert: Das ›Wort‹ ist ›Fleisch‹ geworden. In den Gliedmaßen
der Tiere ist die urbildliche Form durch die Wirkung der physischen Umwelt jeweils einseitig spezialisiert.
 

Entwicklung von Mensch und Tier

[Poster:] Die Verlangsamung der menschlichen Entwicklung als Voraussetzung kulturellen Lernens. Durch die Aufrichtung verlangsamte sich die menschliche Entwicklung und ermöglichte so immer mehr ein soziales und schließlich kulturelles Lernen. Die verlängerte Kindheit und Jugend gelten heute als wichtiges Kriterium der Menschwerdung. Der Paläoanthropologe Christoph Zollikofer: »If you develop more slowly, you can learn more.«

 

[Poster:] Die im Vergleich zu den Tieren verlangsamte Entwicklung des Menschen und seine verlängerte Lebensdauer gehen mit der morphologischen
Retardation des Gesichtsschädels und der Vergrößerung des Gehirns einher. Gestaltbildung und Entwicklung bilden ein raum-zeitliches, organisches
Gesamtgeschehen. Nach Rudolf Steiner sind Tiere zu früh - und damit zu schnell und zu einseitig - verkörperte Menschen.

 

[Exponate:] Die verlangsamte Entwicklung und retardierte Gestaltbildung mit dem vergrößerten Gehirn ermöglichte mehr und mehr kulturelle
Betätigung. Der Mensch begann, aus seinem inneren Erleben heraus Kunstwerke zu gestalten. Man kann hierin wiederum eine Metamorphose sehen:
Die Kraft, die die menschliche Gestalt von innen heraus organisch bildete, verwandelte sich in eine innere Vorstellungs- und Schöpfungsfähigkeit.


Dreigliederung des Menschen und der Säugetiere
 

[Poster:] Dreigliederung des Menschen und der Säugetiere. Die körperliche Organisation des Menschen kann in drei Funktionsbereiche gegliedert werden. In den drei großen Gruppen der Säugetiere sind diese drei Bereiche jeweils einseitig betont ausgebildet ausgeformt: Das Nerven-Sinnes-System in den Nagetieren, das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System in den Huftieren, und das vermittelnde rhythmische System in den Raubtieren. Im Menschen bilden sie ein harmonisch ausgewogenes Ganzes.

 

[Poster/Exponate:] Bei den Nagetieren dominieren die Schneide-, bei den Huftieren die Backen und bei den Raubtieren die Eckzähne. Im menschlichen Gebiss sind alle Zahnarten in einfacher und gleichmäßiger Ausprägung vorhanden. Das menschliche Gebiss erscheint als das harmonische Urbild, aus dem die tierischen durch einseitige Spezialisierungen (Anpassungen an die Umwelt) abgeleitet werden können.


Evolution des Menschen
 

[Poster:] Vom Fischtypus zum Menschen bildet sich im Verlauf der Evolution die dreigliedrige Organisation. Beim Fisch stecken Kopf, Rumpf und Glieder noch wie in einer Einheit ineinander; über die Amphibien, Reptilien und Säugetiere schieben sie sich gleichsam auseinander. Zugleich geht mit dieser Entwicklung die Ausbildung zunehmender Unabhängigkeit von den Einflüssen der Umgebung (Autonomie) einher.

 

[Poster:] Wie die Blätter einer Pflanze, so entwickeln sich die Schädelformen der Menschenaffen und Menschen im Verlauf der Evolution. Je früher sie auftraten, desto weiter entfernten sie sich von der gemeinsamen, embryonalen Kugel-Gestalt. Obwohl der Mensch zuletzt physisch in der Evolution
erscheint, bleibt sein Schädel der Ur-Form am ähnlichsten. »Und was die Mitte birgt ist offenbar, das was am Ende bleibt und anfangs war.« (Goethe)

 

[Poster:] Die Blattentwicklung an einer einjährigen Blütenpflanze als Bild der Evolution (vergleiche die Darstellung der Schädel-Evolution). Die dunkel
schraffierten Blätter zeigen die ausgewachsenen Formen in ihrem aufeinander folgenden Erscheinen am Stängel, die hellen Blattformen geben die
jeweilige Formentwicklung eines Einzelblattes wieder (nach Jochen Bockemühl).