Der zerbrechende Baum
Der folgende Artikel erschien am 02.07.1981 in der FAZ. Damals wurde er von Sieglind Rehn ausgeschnitten und seitdem sorgsam in der GA 235 verwahrt. Haben Sie ähnlich erstaunliche Dokumente, so senden Sie diese doch dem Pool (siehe oben „Beitrag melden“).
N.B. Ein Mann der Forstverwaltung, dreißig Jahre, verheiratet, ein Kind, ist mit seinem kleinen Auto im Wald der Gemeinde Stosswihr, nicht weit von Münster in Elsaß und nicht weit von dem immer etwas unheimlichen, „La Schlucht“ genannten Vogesenpass entfernt, unterwegs. Er hat eine Baustelle, an der ein Holzabfuhrweg verbessert wird, aufzusuchen. Dabei kommt er an einer Lichtung vorbei, die erst vor kurzem entstanden ist, weil hier ein alter, größtenteils hundertjähriger Bestand von Tannen verjüngt werden musste: im Augenblick eine kahle Fläche.
Allein an ein der Stelle, an der der Weg des Försters vorbeiführt, in einer Entfernung von etwa dreißig Metern vom Waldrand, hart an der Straße, ist ein einziger, etwa dreißig Meter hoher und sicherlich hundert Jahre alter Nadelbaum übrig gelassen worden. Es war der jetzt dort vorbeifahrende junge Forstmann, Abt mit Namen, der auf diesem Waldstück die Bäume zum Fällen bestimmt hatte. Sein Mitarbeiter, der ihn damals begleitete, war, wie er jetzt sagt, etwas überrascht gewesen, dass gerade dieser eine Baum stehen bleiben sollte; wohl für Samen oder für ein wenig Beschattung des Nachwuchses?
In dem Augenblick aber, in dem der Förster Abt jetzt an dem Baum vorbeikommt, bricht, in der Höhe von etwas zehn Metern, der Stamm auseinander; der obere Teil der Tanne, im Gewicht von etwa zwei Tonnen, stürzt auf den kleinen Wagen, genau auf dessen Mitte, wo der Fahrer sitzt. Der Tod muss den Förster augenblicklich ereilt haben. Erst vierundzwanzig Stunden später, nachdem Abts Frau Alarm geschlagen hatte, wurde die Tragödie offenbar. Und wenn es auch keine Augenzeugen gibt, so schließen die Umstände Zweifel über ihren Hergang doch aus.
Es bleibt natürlich unerklärlich, wie ein Baum, der nach Aussage der Fachleute, soweit man das vom Boden aus beurteilen konnte, durchaus gesund war und deshalb vom Fällen vorerst hatte verschont werden können, plötzlich und noch dazu auf so ungewöhnliche Weise zerbrechen konnte. Es soll an jenem Tag eine nennenswerte Luftbewegung oder gar einen Sturm nicht gegeben haben. Doch das Unheimlichste dabei ist, das der Baum in dem Augenblick brach, als das Auto des Forstmanns vorbeikam. Kein Wunder, wenn die Forstarbeiter und Kollegen Abts von einem verwunschenen Wald sprechen. Wäre Abt nur eine Sekunde früher oder später an dem Baum vorbeigefahren, ihm wäre das Schicksal, das der Baum, den er überleben lassen wollte, ihm bereitete, erspart geblieben. Es ist eine unheimliche, eine kaum glaubhafte und doch wahre Geschichte um einen Baum. Baumsagen und Baumlegenden: hier hat sich eine in der Wirklichkeit ereignet.