Orgelprojekt Martinskirche
Ein Beitrag von Reinhard Ochtendung (Lehrer an der Jean-Paul-Schule Kassel)
Projektteam: Janek Vogler, Manuel Pellecchia, Julian Ulloth, Lukas Böhme, Reinhard Ochtendung
Wenn es in der internationalen Bildungslandschaft einen Konsens gibt, dann den über den Wert von projektbezogenem Lernen, bei dem Theorie und Praxis ineinandergreifen. Darüber hinaus können Eigenmotivation der Schüler, die selbständige Durchführung, künstlerische und handwerkliche Anteile und die Kooperation mit Menschen außerhalb der Schule den Lernertrag bei einer Projektarbeit erhöhen.
Die evangelische Gemeinde der Martinskirche in Kassel will eine millionenschwere Kirchenorgel mit neuen, ungewöhnlichen Klangeigenschaften anschaffen. Dafür muss die Werbetrommel gerührt werden. Mehrere Schulen werden um Unterstützung gebeten. Bei der Jean-Paul-Schule erzielt die Anfrage Resonanz, weil für eine Handvoll musikbegeisterter Schüler und einen Lehrer aus früheren Projektarbeiten Fragen bezüglich Mechanik und physikalischer Grundlagen der Tonerzeugung bei Tasteninstrumenten offen geblieben waren.
Schnell kristallisiert sich unser gemeinsames Interesse heraus: Eine spielbare Experimentalorgel für eine Vorführung im Rahmen einer öffentlichen Sponsoren-Veranstaltung der Kirchengemeinde. Für die Veranstalter ein farbiger Tupfer auf der langen Rednerliste, für die Schüler eine Performance vor Publikum.
Ein gemeinsamer Besuch in einer professionellen Orgelwerkstatt in Rotenburg macht klar, dass der traditionelle Orgelbau eine sehr hochentwickelte Kunst ist und dass ein originaler „Nachbau im Kleinen" den bescheidenen Rahmen unserer Möglichkeiten in jeder Hinsicht sprengen würde. Es folgt eine Phase des intensiven Nachdenkens, bei der sich die Fantasie als wichtigster Helfer erweist. „Eindampfen auf das Machbare" heißt die Devise und schließlich bleibt als Minimalaufgabe: Bei einer Orgel muss zur Klangerzeugung „irgendwie" Luft durch bedienbare Ventile in Pfeifen strömen können.
Mit dieser minimalen Zielvorgabe im Kopf werden Baumärkte, Pneumatik- und Hydraulikzubehörhändler, Gartenmärkte, private Keller und Werkstätten abgegrast und alles angeschleppt, was verspricht, strömende Luft beherrschen oder als Pfeife dienen zu können. Und dann setzt sich angesichts des Materialangebotes die Orgel im Kopf wie ein Puzzle beinahe von selbst zusammen: Eine Doppelhub-Luftpumpe drückt durch einen Schlauch die Luft in einen großen, elastischen Behälter, von dem aus viele Schläuche durch ebenso viele Ventile die Luft durch weitere Schläuche in die jeweils zugeordneten Pfeifen leiten. Schon nach den ersten Versuchsanordnungen wird schnell klar: Die „Zähmung" des Luftstroms wird ein Problem darstellen. Aber wir sind zuversichtlich.
Mittlerweile ist die Hälfte des Zeitrahmens von 50 Arbeitsstunden ausgeschöpft, und die Versuche aus Messing-, Alu- und Holzröhren Pfeifen herzustellen, erweisen sich als zeitraubende Kniffelarbeit.
Wir müssen eine Entscheidung treffen: Noch mehr Zeit investieren mit unsicherem Ausgang oder eine Abkürzung nehmen? Wir entscheiden uns für die Abkürzung und die sieht so aus: Im Musikfundus der Schule erwecken wir 17 Bass-, Alt- und Sopranblockflöten aus einem beinahe zwanzigjährigen Schlummer. An jeder Flöte werden verschiedene Grifflöcher mit Klebeband verschlossen und so jeder Flöte ein bestimmter Ton zugeordnet: eine komplette Oktave von c bis c' und vier Basstöne.
Nun geht es an den Zusammenbau: Aus 16 Metern Kantholz entsteht ein Gestell; als Windkasten dient ein Treibstoffkanister, der mit 20 Regentonnen-Auslaufhähnen gespickt wird. 17 zweckentfremdete Gartentech-nik-Impulsspritzpistolen werden ähnlich einer Klaviertastatur angeordnet, sodass sie gleichzeitig als Ventile und Taste dienen. 33 Meter Gartenschläuche verschiedenen Querschnitts verbinden Kanister, Ventile und Flöten, die mit zehn Metern Universalklebeband und 96 Kabelbindern am Gestell befestigt werden.
Fantasie und Improvisationstalent sind in dieser Phase genauso gefragt wie handwerkliche Geschicklichkeit, gilt es doch mehr als zehn unterschiedliche Querschnittsmaße mit selbstgebastelten Adaptern zu verbinden.
Als völlig unterschätzte Puzzlearbeit erweist sich die Feinabstimmung der Flötentöne mittels Feinregulierung eines jeden einzelnen Luftstroms. Was der geübte Blockflötenspieler perfekt durch Atemregulierung hinbekommt, das stellt eine Luftpumpe vor scheinbar unlösbare Prob-leme: Jeder einzelne Ton bedarf sowieso schon eines leicht unterschiedlich starken Luftstroms. Sollen mehrere Flöten gleichzeitig erklingen, kann der Luftdruck in Sekundenbruchteilen zusammenbrechen und alles klingt verstimmt.
Der Einbau einer genügend feinen Luftdruckausgleichsmembran, die einen gewissen Luftvorrat speichern und Luftdruckschwankungen ausgleichen kann, erweist sich als notwendig. Nachdem sich die verschiedensten elastischen Materialien allesamt als zu stark erweisen und die Flöten immer wieder quietschend überblasen werden, findet sich der Retter in der Not im Portemonnaie eines Schülers: „Billy Boy", das Universalkondom, dehnbar genug für großes Luftvolumen und zart genug für niedrigen Luftdruck.
So erhält die Orgel spontan ihren Namen: „Sankt Blasius".
Damit ist die Orgel spielbar und die Schüler komponieren und arrangieren ein abwechslungsreiches Musikstück („Das Phantom der Orgel"), bei dem die Orgel ihre Möglichkeiten voll ausspielen kann. Und sie erinnern an die Eigenschaften, die auch die große neue Orgel der Martinskirche über herkömmliche Kirchenorgeln hinauswachsen lässt: Vibrato, Tonmodulation im Vierteltonbereich, perkussive Tonerzeugung.
Die öffentliche Aufführung wird zu einem echten Erlebnis sowohl für die vier Musiker als auch für die Zuschauer. Die Orgel gibt ihr Bestes, und die Musiker bearbeiten sie nach allen Regeln der Kunst: Da wird gepumpt, getastet, geklopft, gedrückt und getrommelt. Bordunbässe wabern durch den Raum, mal atmet und schnauft die Orgel, mal quietscht und pfeift sie, dann klingt sie wieder wie eine Panflöte; zarte Melodien wechseln sich mit orchestralem „Krach" ab. Unterstützt vom kathedralen Hall des Kirchenschiffs kann das kleine Instrument den gesamten Raum mit Klang erfüllen.
Kein Wunder, dass sich nach den „Standing ovations" von über 200 begeisterten Veranstaltungsbesuchern in der Martinskirche der Oberbürgermeister der Stadt Kassel zu der Bemerkung in Richtung Kantor und Orgelbauer hinreißen lässt: „...anscheinend hätte es auch eine preiswertere Lösung geben können, wenn man die Jean-Paul-Schule früher gefragt hätte ..."