Sinnestäuschung – können sich unsere Sinne täuschen?

Wir alle kennen wahrscheinlich den physikalischen Versuch aus unserer Schulzeit, bei dem mit drei unterschiedlich warmen Wasserbecken gezeigt werden soll, dass unsere Sinneswahrnehmungen leicht getäuscht werden können und daher nicht objektiv seien. Es lohnt sich daher in der Oberstufe, diesen Sachverhalt tiefer zu ergründen. Die Schlüsse, die man daraus zieht, sind geradezu existenziell: Kann der Mensch mit Hilfe seiner Sinne einen unverstellten Zugang zur Wirklichkeit herstellen?

Zur Einführung sei hier ein wunderbarer Text von Thomas Göbel aus seiner Autobiographie „Mein Leben“ veröffentlicht (Privatdruck S. 74 – 76, Herausgeberinnen: Nana Göbel und Hanne Weißhaupt 2008). Thomas Göbel schildert darin, wie er besagten Versuch in der Schule erlebte und wie er es nach seinen eigenen Experimenten seinem Lehrer heimzahlen wollte.

Im Anschluss daran bettet Michael Benner die Frage der Sinnestäuschung in einen pädagogischen Kontext ein.

 

Thomas Göbel

„Auch die Wärmelehre kam in der Physik dran und Herr Lücke teilte dort einmal mit, dass sich der Mensch auf seine Sinne nicht verlassen könne, sie seien subjektiv und eine objektive Wahrnehmung gäbe es nicht, wie der nun folgende Versuch zeigen sollte. Er stellte die bekannten drei Töpfe auf, einen mit heißem, einen mit kaltem Wasser und dazwischen einen Topf mit mittlerer Temperatur. Ich muss mich wohl gemeldet haben, um mitzuteilen, dass ich nicht glauben könne, dass mich meine Sinne betrügen. Also wurde ich nach vorne gebeten, hatte die eine Hand ins heiße, die andere ins kalte Wasser zu halten und nach einiger Adaptionszeit beide in den Topf mit der mittleren Wassertemperatur. Schließlich fragte mich Herr Lücke: «Spürst Du nun mit beiden Händen die mittlere Temperatur?», und ich musste zugeben, dass die eine Hand warm, die andere Hand kalt empfand. Er triumphierte nicht, sondern erklärte, nicht eine subjektive naive Haltung könne der Mensch gegenüber den Tatsachen der Physik haben, sondern er habe zu prüfen, zu experimentieren und sich daran ein Urteil zu bilden.

Ich ging mit einem schlechten Gefühl nach Hause. Mein Verstand musste Herrn Lücke Recht geben, aber mein Herz sagte etwas anderes. Ich wollte bei der Überzeugung bleiben, dass mich meine Sinne nicht betrügen würden. So ließ mich der Zwiespalt zwischen Herrn Lückes Urteil und meiner Gefühlsüberzeugung nicht los und ich fragte Herrn Lücke, wenn die Wahrnehmungen durch die Hand falsche Ergebnisse liefern, wie soll man sich dann verhalten, und er sagte, im Experiment habe man statt der Hände Thermometer zu verwenden, die objektiv messen würden, denn Thermometer haben keine subjektiven Empfindungen, sondern zeigen objektiv die Tatsachen an. Das leuchtete mir ein und ich entschloss mich, zu Hause das Experiment mit Thermometern zu wiederholen, denn er hatte es nicht vorgeführt.

Gebadet wurde in meinem Elternhaus am Sonnabend in der Küche. Da wurde das Wasser auf dem Herd in einem großen verzinkten Kessel heiß gemacht und eine ebenso verzinkte Badewanne aufgestellt, die aus dem Keller geholt wurde. Dieses Badewasser verwendete ich für meinen Versuch und die beiden (in Holz gefassten und deshalb schwimmfähigen) Badethermometer, die meine Mutter hatte, wurden dazu eingesetzt. Im heißen Badewasser stieg das Thermometer, das wohl mit rotgefärbtem Alkohol und nicht mit Quecksilber gefüllt war, das andere sank im kalten Wasser, das aus dem Wasserhahn gewonnen wurde. Als beide die jeweilige Temperatur anzeigten, wurden sie in Wasser mittlerer Temperatur gehalten, und siehe da, sie verhielten sich nicht gleich, das eine sank und das andere stieg an. Mein innerer Jubel kannte keine Grenzen, möglicherweise habe ich vor Begeisterung sogar getobt.

Meine liebe Mutter, die allerlei von ihrem Ältesten gewohnt war, hat mit dem Vater gedroht, wenn ich nicht augenblicklich damit aufhören würde. Ich habe sie nicht aufgeklärt, das habe ich überhaupt nie gemacht, wenn sich in meiner Seele heilige Gefühle einstellten wie hier, auch dann nicht, wenn Herumtoben vor lauter Begeisterung die unmittelbare Folge war. Das legte sich immer schnell und zurück blieb das heilige Gefühl, der Natur eines ihrer Rätsel abgelauscht zu haben. Eine Art von Naturreligion bildete sich so.

Ich war aber entschlossen, es Herrn Lücke heimzuzahlen. Mit den beiden Thermometern in der Tasche ging ich in die nächste Physikstunde, in der Herr Lücke längst etwas anders machen wollte. Jedenfalls reagierte er erst einmal ungehalten, als ich das Wassertemperatur-Experiment mit Thermometern zu wiederholen verlangte. Er fragte weshalb und ich behauptete, dass die Thermometer genauso subjektiv reagierten wie meine Hände, und wenn auf meine Hände kein Verlaß sei, dann auf die Thermometer auch nicht. Er war konsterniert, war sich seiner Sache sicher und ließ sich auf die Wiederholung des Experimentes ein.

Erst einmal machte ich darauf aufmerksam, dass meine Hände, sobald ich die eine in das heiße und die andere in das kalte Wasser steckte, zuerst einmal heiß und kalt spüren und dass das Gefühl dafür abklingt, aber nicht ganz. So, zeigte ich, machen es auch die Thermometer, eins steigt, das heißt, es wird wärmer, das andere fällt, das heißt, es wird kälter. Steckt man nun die Thermometer in das Wasser mittlerer Temperatur, fällt das wärmere und zeigt wie meine Hand «kälter» an und das andere steigt und zeigt wie meine Hand «wärmer» an, und ich frage Herr Lücke, was er dazu zu sagen hätte. Er hatte nichts zu sagen, sondern gab mir das, was man eine Backpfeife nennt. Er war fortan für mich erledigt; er aber hat nie wieder versucht mich vorzuführen. Von nun an empfand er mir gegenüber wohl ebenfalls Antipathie. Später habe ich mich mit ihm innerlich versöhnt, das soll der Vollständigkeit halber auch noch erzählt werden.“

Weitere Veröffentlichungen von Thomas Göbel: Die Quellen der Kunst: lebendige Sinne u. Phantasie als Schlüssel zur Architektur. Stuttgart 1982

 

Michael Benner

Dass es Sinnestäuschung gibt, ist so allgemein bekannt und anerkannt, dass es befremdlich erscheinen mag, zu diesem Thema Papier zu bedrucken. In populären Zeitschriften findet man die gängigen kleinen Zeichnungen, die den für jedermann sofort überprüfbaren Beweis liefern, dass man gleich lange Striche, wenn sie denn nur geschickt genug verpackt sind, als unterschiedlich lang erlebt, ja sieht.

So weit, so gut. Nun müsste nur noch der antiquierte Lehrplan der Waldorfschulen umgeschrieben werden; dann wäre die Welt wieder in Ordnung und die Waldorfpädagogik auf der Höhe der Zeit. – Hier wird das vermeintliche Phänomen »Sinnestäuschung« an einfachen Beispielen genau untersucht. Weitere Beispiele finden Sie HIER.

Was ist gemeint? In der Unterstufe lernen die Schüler z.B. als Vermächtnis von Goethe ungefähr das Folgende:

»Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.«

Wer diesen Gedichtausschnitt nicht nur als nette Ermunterung für Unterstufenschüler in der ach so verunsichernden Welt nimmt, sondern als ernst gemeinte Aussage, der gerät an den Rand eines Problems. Sinnestäuschung sei nicht möglich, sagt Goethe und knüpft diese Aussage dann aber doch in merkwürdiger Weise an eine Bedingung:

»Wenn dein Verstand dich wach erhält.«

Also ist Sinnestäuschung unter bestimmten Bedingungen doch möglich? Woran dies dann im Einzelnen liegt, könnte man als Spezialproblem für Anthropologen, Sinnesphysiologen, Psychologen und Gehirnforscher ansehen.

Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich jedoch die Frage, wodurch eine sogenannte Sinnestäuschung oder Ähnliches entsteht, als eine zentrale Frage für die in der Regel un- oder halbbewusst erworbene oder eben nicht erworbene Lebenssicherheit von Kindern und Jugendlichen. Wenn wir Schülern beibringen, dass ihre Sinne, auch wenn sie medizinisch gesehen gesund sind, sich nicht dafür eignen, zur Welt bzw. zur Wirklichkeit einen Kontakt herzustellen; sich nicht dazu eignen, die Welt zu erkennen, weil sie jederzeit und für den Menschen unkontrollierbar getäuscht werden können: Dann muss sich ein Lebensgefühl einstellen, das ungefähr so aussieht:

»Es ist egal, ob ich etwas beobachte, ob ich einer Sache lausche oder sie zu ertasten suche, denn das Ergebnis ist wertlos. Ich weiß nicht, ob es etwas über die Welt aussagt, oder nur über den verzerrenden, verfälschenden Zustand meiner Sinne, meines Körpers.«

Fragen über die Welt, wie Kinder und Jugendliche sie unbefangen mit leuchtenden Augen stellen können, sind dann überflüssig, und wir sollten dies den Jugendlichen sagen, auch wenn es schmerzt. Sie werden sich dann von dem Weltinteresse ab- und dem erkenntnisfreien sinnlichen, dem sinnlosen Genuss zuwenden; denn dazu eignet sich der eigene Körper ja durchaus auch.

Um es kurz zu machen: Es gibt keine Sinnestäuschung! Es gibt nur Fehlurteile!

Man könnte fragen: Ist das weniger verheerend? Ja, es ist! Warum? Das Fehlurteil entsteht, wenn die von Goethe gemachte Voraussetzung: »Wenn dein Verstand dich wach erhält« nicht gegeben ist. Diesen wachen Verstand kann man aber systematisch üben.

Anders als die Sinnestäuschung kann man das Fehlurteil über eine sinnliche Wahrnehmung durch intensivere Beobachtung, ergänzende Fragestellungen und das Vermeiden vorschnellen Schließens rückgängig machen.

Der Mensch kann sich also irren. Der Irrtum ist aber an einer Stelle angesiedelt, an der der Mensch intensiv arbeiten kann, bis sich seine Urteilsfähigkeit verbessert hat. Er kann seinen Mangel selbst beheben, denn er ist lernfähig.

Dass kann einen anspornen. Meinen Körper, meine Sinne dagegen muss ich (weitgehend) nehmen, wie sie sind. Wenn sie für die Erkenntnis der Welt untauglich sein sollten, muss ich damit leben. Dies führt zur Resignation und oft zur Ersatzbefriedigung, zur Sucht.
 

Ist das Wasser warm oder kühl?

Ein gutes Beispiel ist das schöne Experiment mit den drei nebeneinanderstehenden Wasserbehältern. Der rechte Behälter enthält kaltes, der linke sehr warmes und der mittlere lauwarmes Wasser. Zuerst legt man für eine Minute die rechte Hand in das rechte und die linke Hand in das linke Becken. Danach legt man gleichzeitig beide Hände in das mittlere Becken.

Selbst wenn man sich das Experiment nur vorstellt, kann man sich das Ergebnis im mittleren Becken gut vergegenwärtigen: Die rechte Hand, die sich zuvor im kalten Wasser befand, wird das lauwarme Wasser zunächst als warm empfinden. Die linke Hand, die sich zuvor im sehr warmen Wasser befunden hat, wird das lauwarme Wasser zunächst als kühl empfinden. Diese Unterschiede werden mit der Zeit verschwinden. Dann werden beide Hände das Wasser als lauwarm empfinden.

Die (hier bewusste) Wortwahl scheint gerade die Subjektivität der Sinneswahrnehmung aufzudecken. Dieser Eindruck verschärft sich noch, wenn man drei verschiedene Thermometer in die drei Becken hält und dann z.B. als Ergebnis 10, 40 und 25 Grad erhält.

Die sich an den gemachten Sinneswahrnehmungen entzündenden Gedanken gehören dann untrennbar zu den Wahrnehmungen dazu, wenn sie sachgerecht gebildet wurden. Dies wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass ohne jede Gedankenbildung nur die reine Sinneswahrnehmung übrig bleibt. Und die erlaubt keine Aussage. Schon die einfachste Aussage erfordert eine Gedankenbildung. – Was sachgerecht ist, kann nicht von einer Instanz außerhalb des ganzen Prozesses, sondern nur aus dem Prozess selbst heraus beurteilt werden.

In diesem Sinne kann man feststellen, dass die Hände, die die Becken wechseln, die Wirklichkeit in einem umfassenderen Sinn wahrnehmen, als die drei isoliert messenden Thermometer. Sie stellen nämlich den Zusammenhang zwischen den Temperaturen der verschiedenen Becken her: Im Verhältnis zum kalten Wasser des rechten Beckens ist das lauwarme Wasser des mittleren Beckens warm. Im Verhältnis zum sehr warmen Wasser des linken Beckens ist das lauwarme Wasser des mittleren Beckens kühl. Dies sind Tatsachen, und genau diese werden von den Händen bzw. dem sich ohne Theorie an die Sinne anschmiegenden Verstand wahrgenommen.

Die sich anschließende Gedankenbildung führt mir die Tatsachen ins Bewusstsein. Führt man das Experiment mit zwei Thermometern so durch, wie das Experiment mit den zwei Händen, so zeigt sich bei ganzheitlicher Betrachtung, dass die Thermometer genauso reagieren wie die Hände: Das Thermometer, welches aus dem kalten in das lauwarme Wasser gewechselt wird, steigt. Das Thermometer, welches aus dem sehr warmen Wasser in das lauwarme Wasser gewechselt wird, fällt.

Noch einmal: Die beiden Thermometer, gleichzeitig in das lauwarme Wasser getaucht, verhalten sich unterschiedlich. Das eine Thermometer steigt, das andere fällt. Für einen Moment könnte es dem, der sich im Urteil unsicher fühlt, so scheinen, als ob auch die Thermometer, wie vorher die Hände, subjektiv arbeiten würden. Da es ein technisches Gerät ohne Bewusstsein ist, spricht aber wenig für diese Überlegung.

Dennoch entsteht an dieser Stelle die Versuchung, den beobachtbaren Vorgang des Steigens und Fallens als Zwischenergebnis wegzulassen und sich nur auf den scheinbar objektiven Endzustand der gleichen Temperaturanzeige beider Thermometer zu konzentrieren.

In Wahrheit messen aber auch die Thermometer, wenn man die Versuchsanordnung entsprechend wählt, den Zusammenhang der verschiedenen Temperaturen. Das Ergebnis ist bei beiden Versuchen (mit zwei Händen und mit zwei Thermometern) gleich objektiv. Nach einiger Zeit zeigen beide Hände und beide Thermometer im mittleren Becken die gleiche Temperatur an.
 

Resumé

Die erste Aussage, dass nämlich die Sinne (hier der Wärmesinn) getäuscht worden sind, entpuppt sich als ein Fehlurteil im doppelten Sinn. Zum einen liegt hier ein methodisches Fehlurteil vor, zum anderen ein inhaltliches.

  1. Die Sinne sind ein Teil der sinnlichen Welt und ohne Möglichkeit der Distanzbildung in diese eingebunden. Sie werden durch Wärme, Druck oder Geräusche »angegangen« und »erleiden « diese. Zu einem Urteil sind die Sinne nicht fähig, also auch nicht zu einem Fehl-Urteil, Sinnestäuschung genannt.
  2. Das auf den Inhalt des Experiments bezogene Urteil: Die Sinneswahrnehmung sei subjektiv, da die Hände ja bei ein und derselben Temperatur des mittleren Beckens Unterschiedliches empfinden würden, ist ein Fehlurteil, da der Vergleich mit den Thermometern, wenn er denn nur zu Ende gedacht wird, zeigt, wie hochpräzise die Hände den Zusammenhang mit der konkreten Welt herstellen.

Nun kann in der Oberstufe aufgeatmet werden. Das, was in dem zunächst gemüthaft erscheinenden Goethegedicht den Unterstufenschülern Lebenszuversicht vermitteln soll, kann auf Oberstufenniveau philosophisch-erkenntnistheoretisch durchdacht und nachgewiesen werden. So wird nicht nur durch den wach erhaltenen Verstand ein einheitliches Weltbild wiederhergestellt, sondern eine Chance eröffnet, berechtigterweise die Jugendlichen und Kinder zu einem Weltinteresse anzuregen, das sie sich mit der ganzen Welt in verstehender Weise verbinden lässt. In politische Kategorien übersetzt, kann aus einem menschlichen Weltinteresse, d.h. aus einem Interesse am Anderen und am Anderssein, Frieden erzeugt werden.

Mit freundlicher Genehmigung der Seite „sinnestaeuschung-gibt-es-nicht.de“ von Michael Benner entnommen.