Einen Tag aus dem „Leben" eines Gerätes

Ein Beitrag von Mischa W. Weggen (Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Nordheide)

Der Deutschunterricht in der Oberstufe der Waldorfschule ist in erster Linie Literaturunterricht, das heißt, dass wir jedes Schuljahr ein großes Werk lesen - üblicherweise in der 9. Klasse ein Stück der Weimarer Klassik, in der 10. Klasse das Nibelungenlied, in der 11. Wolframs Parzival und in der 12. den „Faust". In der zweiten Deutschepoche jedes Schuljahres soll dann Raum sein für kleinere Formen der Literatur, Kurzgeschichten, Novellen, vielleicht auch einmal für die Bearbeitung von Sachtexten. In der 10. Klasse ist auch die jährliche Kunstepoche der Literatur gewidmet, wenn es nämlich nach Plastik und Malerei in der 9. Klasse um die Auseinandersetzung mit Lyrik in der „Poetikepoche" geht (in der 11. folgt dann Musikgeschichte und in der 12. Architektur).

In diesem Schuljahr gab es nun durch eine nötige Neustrukturierung des Epochenplanes während des laufenden Betriebes die Möglichkeit, einmal eine Epoche im „Schöpferischen Schreiben" zu improvisieren, in der die Schüler verschiedene fiktionale Texte schreiben konnten, also „ausgedachte" kleine Geschichten, die jeweils von einer bestimmten Aufgabenstellung ausgingen.

Wir begannen mit einigen einfachen (oder einfach erscheinenden!) Übungen, z. B.:

  • Beschreibe dich selbst
  • Beschreibe einen Mitschüler
  • Beschreibe einen Gegenstand

und zwar jeweils so, dass das zu beschreibende Objekt nicht beim Namen genannt werden durfte, sondern es darum ging, mit Worten ein möglichst genaues Bild zu zeichnen. Im Laufe der Epoche kamen wir dann bis zu Übungen im Spannungsaufbau und der Erzählperspektive, zum inneren Monolog sowie einer längeren Geschichte als Abschluss.

Eine weitere Übung war es, einen Tag aus dem „Leben" eines Gerätes zu schildern. Hierbei entstanden einige gelungene Texte, und da wir in der Epoche auch noch einmal einen kurzen Blick auf die antike und mittelalterliche Humoralpathologie geworfen haben, also die Lehre von den vier Körpersäften des Menschen und den vier Temperamenten, die sich mindestens in der Literaturkritik noch immer bewährt, haben wir festgestellt, dass nicht nur Menschen, sondern offenbar auch Geräte ein Temperament haben können...

Lesen Sie drei Beispielgeschichten aus der 10. Klasse, die zugleich jeweils ein kleines Rätsel sind, denn es wird, wie gesagt, weder explizit verraten, um welches Gerät es sich handelt, noch welches Temperament es hat...

 

Abhängen

„Guten Morgen." Mit diesen Worten weckt mich Betti jeden Morgen. Ich könnte Ewigkeiten schlafen, wenn man mich ließe. Ich bin auch oft lange wach, das bekommt mir nur nicht so gut, wie ich festgestellt habe. Nun beginnt also wieder der langweilige, eintönige Alltag.

Abhängen mit meinen Freunden, aber immer an dergleichen Stelle, das wird irgendwann richtig langweilig, aber wir können einfach nicht woanders hingehen. Ich schlafe am Tag immer mal wieder zwischendurch ein. Wenn ich wach bin, strahle ich von einem Ohr zum anderen. Eigentlich stimmt das nicht ganz, denn Ohren habe ich nicht. Das ständige Strahlen ist ziemlich anstrengend, und wenn ich zu lange wach bin, brennt mir schon mal die Sicherung durch. Mir wird dann auch ganz schön heiß, da sollte mir besser keiner zu nahe kommen, denn das kann schmerzliche Folgen haben. Natürlich mache ich das nicht absichtlich, anderen weh zu tun, es passiert einfach, wenn man mich anfasst.

Wenn ich in einen Spiegel gucken könnte, würde ich mich sicher ziemlich erschrecken, denn mir fehlen Arme und Beine, und genau genommen fehlt mir der Rest von meinem Körper auch, außer meinem Kopf und meinem Hals. Mein Kopf ist ziemlich groß und durchsichtig, aber besonders viel habe ich nicht in der Birne. Ziemlich peinlich, wenn man bedenkt, dass jeder in meinen Kopf hinein gucken kann! Außerdem ist er relativ hart, aber leicht zerbrechlich, das kann schon mal gefährlich werden, wenn Benjamin und Paul wieder im Wohnzimmer Ball spielen. Um meinen ungewöhnlich großen Kopf zu verstecken, trage ich viele verschiedene Kleider. Mal sind sie modern und ausgefallen, dann wieder alt und ziemlich schlicht. Mir ist eigentlich egal, welche Art von Kleidern ich trage, Hauptsache, mein Kopf verschwindet darin. Aber mein strahlendes Lächeln kann trotzdem jeder sehen. Manchmal sind die Leute von meinem Lächeln genervt, meist ist das früh am Morgen, ich kann das überhaupt nicht verstehen, denn ich strahle doch nur für sie, wer kann das schon von sich behaupten?! Mein Tag verläuft nicht sehr spektakulär, ich hänge herum und beobachte Leute. Ich bin kein Spanner oder so etwas, ich tu es einfach, weil ich nichts anderes tun kann, ich werde so zu sagen dazu gezwungen und den Leuten macht es ja auch nichts aus, denn sie wissen nicht, dass ich sie Tag ein, Tag aus beobachte ... Man hat kein vielfältiges Leben als Glühbirne.

Laura

 

Immer im Einsatz

Ach, mein Leben ist hart.
Kaum sechs Stunden konnte ich diesmal schlafen, und auch, wenn ich laut Akkustandsanzeige wieder fit bin, könnte ich etwas Ruhe gebrauchen. Der Morgen ist für mich, verglichen mit dem Rest des Tages, am schlimmsten, denn Timo, mein Besitzer, geht nicht gerade pfleglich mit mir um. Jedesmal, wenn ich ihn wecken muss, schubst er mich doch tatsächlich einfach vom Nachttisch hinunter! Manchmal habe ich Glück und falle auf den Teppich, das tut immerhin nicht so weh. Oh je, ich sehe schon, heute ist kein Teppichtag... aaah! Wie großzügig. Nachdem Timo mich abermals in Kleinteile zerlegt hat, bin ich nun wieder funktionstüchtig. Jetzt patsch er schon wieder wie ein Wilder mit seinen Wurstfingern auf mir herum. Timo, ich muss auch erstmal wach werden! Aber er hört nicht auf mich. Ich darf nur sprechen, wenn andere es wollen.

Endlich, Timo geht ins Bad, um sich seinen Oberlippenbart wegzurasieren. Jetzt habe ich erst einmal zwanzig Minuten Ruhe. Denkste! Denn seit es Whatsapp gibt, muss ich pausenlos piepsen und vibrieren und Nachrichten übermitteln. Was wollen alle diese Mädchen bloß von ihm?! Bald geht es in die Schule, da habe ich meist Ruhe, wenn er nicht gerade bei Facebook oder Instagram ist. Das kommt aber nur bei zwei ganz bestimmten Lehrern vor, die sogar ich schrecklich langweilig finde...

Ansonsten komme ich immer mittags wieder zum Einsatz, denn Timo hat so einen komischen Tick: Alles, was er isst, muss ich mir mit meinen Augen merken und abspeichern. Seiner Mutter hat er erklärt, er tue das, damit er nicht dick werde (ist er eh schon!). Gerade hat Timo Sport, und ich schaukele in der Tasche seiner Sporthose hin und her. Plötzlich wird ein Ball mit voller Wucht gegen mich geschleudert, doch anstatt, dass Timo sich um mich kümmert, schreit er auf wie ein Baby und hält seine Hände vor... nicht vor mich jedenfalls. Im Grunde habe ich ihn aber doch ganz gern. Wenn er mich beispielsweise mit meinen Artgenossen vergleicht, die seine Freunde besitzen, dann macht er mir immer ganz viele Komplimente und erzählt allen, wie schlank und leicht ich sei, dabei aber trotzdem sehr groß und körperlich fit und gesund. Bei vielen technischen Sachen habe ich keine Ahnung, wovon er spricht, aber es hört sich sehr nach Lob an.

Am Nachmittag geht es dann aber erst richtig los! Dann wird an mir gespielt, ich speichere Momente von Timo und seinen Freunden beim Fußball oder in der Stadt, singe, überbringe Nachrichten oder vermittle Gespräche. Manchmal bin ich dann so erschöpft, dass ich schon vor dem Schlafengehen Energienachschub brauche. Um Mitternacht ist Timo endlich müde, und ich kann mich ausruhen. Auch ein Smartphone braucht mal Ruhe.

Jeannine

 

Stumme Zeugin

Fünf Minuten nach elf.
Draußen auf der Straße brummen die Autos vorbei, irgendwo jault das Martinshorn eines Krankenwagens, ein Hund bellt. Hier im Haus ist es still. Und stockdunkel. Lediglich die Heizung gluckert vor sich hin. Das Martinshorn ist verstummt, der Hund ebenfalls. Die Autos brummen weiter. Verdammt langweiliger Job, das hier! Tagein, tagaus im Wohnzimmer herumstehen - nur zu jeder vollen Stunde kommt mein Einsatz.

24 Mal am Tag. 168 Mal in der Woche. 720 Mal im Monat - oder 744 Mal, in den Monaten, die 31 Tage haben. Macht im Jahr 8760 Einsätze. In den Schaltjahren immerhin 8784. Ziemlich magerer Job.

Halb zwölf- eine halbe Stunde noch bis zu meinem nächsten Einsatz - dem größten innerhalb von 12 Stunden. Sara, die hier wohnt, sollte längst zurück sein. Manch einer behauptet, ich würde Sara gehören, so wie ich zuvor ihrer Mutter gehört habe, und davor deren Mutter. In Wahrheit habe ich niemals irgendjemandem gehört. Nur mir selbst. Wie auch immer, Sara sollte längst zurück sein. Naja, vielleicht hat sie einfach die Zeit vergessen. Kann mir nicht passieren. Die Zeit ist sozusagen mein Leben. Sofern ich denn überhaupt lebe - Sara glaubt, ich täte es nicht. Aber Sara versteht nichts davon, sie ist schließlich nicht ich.

Viertel vor zwölf, noch immer keine Spur von Sara. Warum mache ich mir bloß Sorgen um sie? Weil ich nichts anderen zu tun habe, vermutlich. Außer, auf meinen nächsten Einsatz zu warten. Verpassen werde ich den nicht - immerhin mache ich diesen Job hier seit nunmehr 100 Jahren, da unterlaufen einem keine Fehler mehr. 100 Jahre....das macht...876.000 Einsätze in meinem bisherigen Leben, oder Dasein, oder was auch immer. Nein -876.600 sind es, ich habe die Schaltjahre nicht bedacht. Solche Berechnungen stellt man an, wenn man nur herumsteht und wartet....und wartet.... Fünf vor zwölf.....fünf Minuten nur noch, dann ist es soweit! An der Haustür ist jemand....aber nicht Sara! Jemand... kommt herein.
Scheint ein Mann zu sein. Er trägt eine Taschenlampe. Dunkle Kleidung, Mütze, so eine Stoffmaske vor dem Gesicht, wie Sara sie auf einem Foto vom Skiurlaub trägt.

Ein Skiläufer ist das aber nicht!

Jetzt zieht er die Maske vom Gesicht. Braunes Haar, dunkle Augen. Aufmerksam blickt er sich um. Zieht eine Schublade auf. Der wird doch nicht....?! Doch, wird er! Er stopft alles Mögliche in seine Umhängetasche, größtenteils wertloses Zeug, meiner Meinung nach. Alter Schmuck und so. Sara meinte einmal, dieser ganze Plunder wäre mehr wert als das ganze Haus -
Eine Minute noch!
Sie wird das Zeug wohl vermissen -
Dreißig Sekunden!
Vielleicht kann ich ja doch noch was verhindern, auch wenn es mir nicht möglich ist, mich vom Fleck zu -GONG!

Na bitte, der Typ zuckt entsetzt zusammen.
GONG!
Er starrt mich an. Schüttelt den Kopf.
GONG
Und grinst.
GONG!
Dann schnappt er sich seine Tasche, blickt sich noch einmal -
GONG!
Blickt sich noch einmal um und -
GONG!
Verlässt das Haus.
GONG!
Ein Einbrecher! Passiert also doch mal was Spannendes in meinem langweiligen -
GONG!
Langweiligen Leben. Die Autos vor dem Haus brummen weiter.
GONG!
Der Hund bellt wieder.
GONG! Ein zweiter Hund antwortet.
GONG!
Im Garten streiten sich fauchend zwei Katzen.
GONG!
Ende, das war's für diese Stunde. Und wieder warten.
Viertel nach zwölf. Alles still, bis auf die Autos, die wohl nie schweigen.
Früher war das auch anders.
Zugegeben, Lärm gemacht haben die Pferdekutschen seinerzeit auch....aber eben eine andere Art von Lärm. Doch das ist jetzt schon so lange her.... Halb eins.
Sara kommt, ihre Schritte vor der Haustür sind unverkennbar.
Na, die wird gleich eine Überraschung erleben.... Sie macht Licht. Kommt ins Wohnzimmer. Sieht die offenen Schubladen. Und schreit.

Mittlerweile ist es halb zwei, mein kürzester Einsatz ist bereits vorbei - Und das hat sich jetzt tatsächlich gereimt! Nun, wie auch immer, inzwischen ist jedenfalls die Polizei da. Wenn auch mürrisch und ziemlich verschlafen. „Und Sie haben alles so gelassen, wie Sie es bei Ihrer Rückkehr vorgefunden haben?", fragt der blonde Polizist und verbirgt sein Gähnen hinter vorgehaltener Hand. Sara schüttelt stumm den Kopf und fährt sich mit beiden Händen durch ihre ohnehin schon völlig zerzausten Haare. „Er muss gewusst haben, dass ich den ganzen Abend nicht zuhause bin..." murmelt sie. ,,Wenn ich nur wüsste...." Nun, meine liebe Sara, ich weiß, wer der Einbrecher war. Zumindest könnte ich diesen müden Polizisten eine ziemlich genaue Täterbeschreibung liefern. Aber ich bin ja nur eine antike Standuhr, zwischen den vollen Stunden zum Schweigen verdammt!

Nora