Reportagen aus der Klasse 10

Ein Beitrag von Frau Walther (Freie Waldorfschule Hannover-Bothfeld)

Seit einigen Jahren schreiben die Schülerinnen und Schüler der jeweils 10. Klasse unserer Schule im Rahmen des medienkundlichen Unterrichts Reportagen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass eine eigene Erfahrung dem Schreiben des Textes zugrunde liegt: z. B. eine Begegnung, eine Reise, ein Besuch eines interessanten Ortes, damit verbundene Gespräche und Nachforschungen. Auch Selbstversuche können Ausgangspunkt für den zu schreibenden Text sein. Im Unterricht werden zunächst in ein oder zwei Doppelstunden von mir gesammelte und ausgelegte Reportagen individuell gelesen. Dabei sollen die Jugendlichen nicht nur auf den Inhalt achten, sondern auch auf die Schreibweise und den Aufbau des Textes, und sich die Texte gegenseitig vorstellen und weiterempfehlen. Auf diese Weise lernen sie ganz unterschiedlich geschriebene Texte und Themenfelder kennen. Eine von mir ausgewählte Reportage analysieren wir beispielhaft. Anschließend suchen sie sich ihr eigenes Thema, beginnen mit der Recherche und schreiben ihren Text, den ich korrigiere. Die von den Jugendlichen im nächsten Arbeitsschritt überarbeiteten und abgetippten Reportagen werden schließlich in einem Reader in passendem Layout zusammengestellt und für alle kopiert. Die hier zu lesenden Reportagen wurden von der Klasse anschließend an das Projekt für die Schulzeitung ausgesucht.

 

Ohne Angst ver­schieden sein

Noch ein letzter Blick in den Spiegel, aus dem mich ein Mädchen mit magentafarbenem Kopftuch, schlichter Hose, T-Shirt und ungewohnt geschminkt anblickt. Heute sehe ich ganz und gar nicht aus wie ich; das findet anscheinend auch mein zweijähriger Bruder, der mich unverwandt anstarrt.

Dann geht es los.

Ich treffe mich mit Alicia in der Stadt am Hauptbahnhof, meine erste Zeit mit dem Kopftuch unter Leuten, und schon beim Warten fühle ich mich seltsam, auf­fälliger. Mir ist klar, dass diese Aktion hauptsächlich für mich einen Unterschied macht, und doch fühle ich mich aufdring­lich anders.

In der Menschenmasse beachtet mich niemand, aber schon im ersten Laden wer­de ich von einem Mädchen vor mir in der Schlange angestarrt. Anstatt zurück zu starren, gucke ich einfach weg. Auch eine der Angestellten dort verhält sich anders, indem sie mir ganz deutlich zu verstehen gibt, dass ich zwei Teile zum Anprobieren habe, als ob ich kein Deutsch sprechen würde.

Ansonsten verläuft alles normal, abge­sehen davon, dass ich mich nicht normal fühle und mir zu warm ist, und so kommt es, dass ich mich schon nach ca. 3 1/2 Stun­den wieder zu der für mich normalen Mia ohne Kopftuch mache.

Eine Woche später habe ich ein Tref­fen mit Sabrina R. Ihre Familie kommt aus Afghanistan. Sabrina ist in Kabul gebo­ren und lebt, seit sie vier Jahre alt ist, als Kriegsflüchtling in Deutschland. Seit ihrem 27. Lebensjahr trägt sie das Kopftuch; auch wenn dieses in ihrer Kindheit in ihrer Familie keine große Rolle spielte. Sie wurde zwar religiös erzogen, jedoch hat ihre Mutter nie ein Kopftuch getragen und Sabrina konnte für sich selbst herausfinden, welchen Stellenwert der Glaube in ihrem Leben haben würde.

Schon mit 16 Jahren hatte sie den Wunsch, ein Kopftuch zu tragen, denn sie empfand es als einen wichtigen Ausdruck ihres Glaubens. Die Umsetzung erwies sich aber als schwierig. Zum einen gegenüber ihren Eltern, doch das größte Problem war die Angst vor der Reaktion ihres Umfeldes, sowohl ihrer Freunde und bald auch der Arbeitgeber.

Ihr Job bei der Lufthansa wäre genauso unmöglich gewesen wie ihre spätere Stelle als Reiseverkehrskauffrau. Für sie erfüllte sich der Wunsch, im Alltag ein Kopftuch zu tragen, erst mit 27 Jahren, als durch die erste Schwangerschaft eine Arbeitspause eintrat.

Sabrina hat sich durch ihren Glau­ben an Allah, den Gott, der ihrem musli­mischen Glauben nach die Welt erschaffen hat, dafür entschieden, das Kopftuch zu tragen. Allahs Worte sind demnach durch den Propheten Mohammed im Koran nie­dergeschrieben und Sabrina vertraut sei­nen Aussagen. Doch es ist nicht so, dass Sa­brina diese Regeln und Anregungen nicht hinterfragt. Im Gegenteil, es ist eher so, dass ihre Meinung und die meisten Aus­sagen des Koran übereinstimmen und ein Zusammenspiel ergeben.

So trägt sie das Kopftuch in erster Li­nie als Glaubensbekenntnis und in zweiter Linie deshalb, weil der Koran sagt, dass die Frau ihre Reize so weit wie möglich redu­zieren soll. Sie schildert sehr eindrücklich, wie anders es sich jetzt für sie anfühlt, durch die Stadt zu gehen als früher, als sie mit ihrer schwarzen Lockenmähne die Bli­cke vieler Menschen - und vor allem der Männer - auf sich zog.

Es geht ihr darum, dass ihr Gegenüber, wenn sie mit ihm spricht, nur ihre Seele und ihr wirkliches Ich wahrnehmen soll, durch die Augen, die Sprache und die Gestik. Er soll sich nicht nur ihres Körpers wegen für sie interessieren. Sie möchte nicht durch ihr Aussehen fehlinterpretiert werden, und deshalb dürfen letztlich nur die Menschen, die schon bewiesen haben, dass sie sie un­abhängig von ihrem Aussehen lieben, auch ihre körperliche Schönheit sehen.

Besonders spannend an diesem Inter­view ist auch, dass Sabrina den direkten Vergleich hat; sie kennt das Leben in Deutschland ohne Kopftuch als selbstbewusste, integrierte Frau, die „wie wir" erscheint. Aber sie kennt auch die andere Seite, bei der sie auf der Straße diskrimi­niert wird und immer wieder aufs Neue beweisen muss, dass sie Deutsch spricht, hier aufgewachsen und selbstständig ist. Sie sieht es als eine Prüfung, eine Heraus­forderung an.

Ich kann mich sehr gut in ihre Situati­on versetzen und verstehe ihre Argumente, das Kopftuch zu tragen. Jede Frau muss für sich selber wählen, was für sie das Beste ist; Sabrina hat ihren Weg und den richtigen Umgang damit gefunden, es war für sie eine wichtige Entscheidung, die sie nicht bereut.

Ich bin aber auch ein bisschen verwirrt. Ist das Kopftuch nun der Ausdruck der Unterdrückung der Frau, oder bringen die Frauen damit selbstbewusst ihre Religiosi­tät zum Ausdruck und entscheiden selbst, wie viel und was sie von sich in der Gesell­schaft zeigen möchten? Ich denke, diese Fragen kann man nicht mit einem Ja oder Nein beantworten. Mir persönlich fällt es schwer zu glauben, dass sich unter einer Burka, die den ganzen Körper verhüllt, eine selbstbewusste Frau versteckt, die frei wäre, sich dafür zu entscheiden, sich auch anders zu kleiden. Immerhin geht es ja auch nicht nur um ein Kleidungsstück, sondern um die Gleichberechtigung der Frau, und um die ist es in vielen islamisch geprägten Gesellschaften auch in den Ge­setzen nicht gut bestellt.

Und trotzdem darf man nicht den Feh­ler machen, den Islam gleichzusetzen mit den fundamentalistischen Auslegungen des Koran, wie sie heute in manchen Län­dern z. B. in Form der Scharia aufgefasst werden.

Aber wo ist die Stimme der unterdrü­ckten Kopftuchträgerinnen? Ich habe im Internet geforscht und sie für meine Re­portage nicht gefunden. Sabrina R. und die Talkshowgäste bei YouTube sind alles selbstbewusste, aufgeklärte und stolze Frauen. Aber die anderen gibt es auch. Ich vermute, dass gerade diese Frauen nicht die Freiheit haben, anderen gegenüber so offen über ihre Situation zu sprechen.

Es bleibt ein widersprüchliches Gefühl und die immer festere Überzeugung, dass es keine pauschale Antwort gibt, weil jeder Mensch individuell gesehen werden will und auch das Recht darauf hat. Auch wenn es schwierig ist: Die Schubladen müssen geschlossen bleiben.

Die Möglichkeit dazu, ohne Angst ver­schieden zu sein, ob mit oder ohne Kopf­tuch, wünsche ich mir für alle.

Mia

 

Vegan ernähren - ein Selbstversuch

Zwei Wochen auf Gummi kauen und Gemüse essen, so würde ein mancher diesen Selbstversuch beschreiben, denn Vorurteile gegen Tofu sind nicht selten und der Vergleich mit Gummi ist beliebt, wenn auch in meinen Augen unberechtigt. Tatsächlich habe ich einfach zwei Wochen ausprobiert, mich vegan zu ernähren.

Veganer leben, ohne Tiere in Anspruch zu nehmen. Man verzichtet einerseits auf Tierisches wie Fleisch, Milcherzeugnisse und Ähnliches wie beispielsweise Gela­tine. Aber auch Kleidung aus Leder oder Wolle und sogar Seide wird von Veganern, die diese Lebenseinstellung strikt einhalten, nicht getragen. Sogar auf Honig wird verzichtet. Die Gründe: Die Bienen würden zwar nicht so stark wie Tiere aus der Fleisch- oder Milchproduktion ausge­beutet oder benutzt, aber auch hier werde in das natürliche Leben der Tiere einge­griffen. In der Honigproduktion werde den Bienen der Honig genommen, den sie selber brauchen, und da der Honig auch vermarktet werden soll, werde keine Rück­sicht auf die Bienen genommen. Bei der Herstellung von Seide werden die Seiden­raupen lebendig gekocht, da man nur so an die Seide komme.

All diese Informationen bewirken, dass es immer mehr Veganer gibt. Zwar ist man sich, wenn man sich nicht mit dem Thema auseinandersetzt, gar nicht im Klaren, wie manches hergestellt wird und was tatsäch­lich vegan ist, aber heute beschäftigen sich immer mehr, vor allem junge Leute, mit solchen Themen.

Die Entscheidung, die ein Vegetarier sich stellt - Fleisch oder nicht - hat man als Veganer nicht direkt. Man muss sich vielmehr entscheiden, ob man sich nur ve­gan ernähren oder sogar vegan leben, also auch auf Leder, Seide und Wolle verzich­ten möchte. Bei dieser Fragestellung gibt es viele Meinungen. Manche sehen Honig zum Beispiel als vegan, andere nicht.

Ein weiterer Punkt, der sowohl in der vegetarischen Ernährung als auch in der veganen oft diskutiert wird, ist, ob die Er­nährung für den Körper überhaupt aus­reicht, denn einige wichtige Stoffe sind vor allem in tierischen Erzeugnissen ent­halten. Es gibt jedoch immer mehr Studi­en und Meinungen, die sich dahingehend aussprechen, dass man diese Stoffe auch durch pflanzliche Produkte aufnehmen könne.

Ich habe mich im Rahmen dieser Re­portage kaum mit diesen Fragen beschäf­tigt. Das Ziel war auch nicht, die zwei Wo­chen einfach durchzuhalten und danach zum „Normalen" überzugehen. Es hätte auch durchaus so kommen können, dass ich nach einer Woche keine Lust mehr gehabt und aufgehört hätte; der Selbst­versuch wäre deshalb nicht gescheitert. Es ging mir darum, mir bewusst zu machen, worauf man achten muss, und zu merken, in welchen Produkten eigentlich tatsäch­lich tierische Produkte enthalten sind. Bei manchen Sachen ist das nämlich gar nicht so offensichtlich und es gibt, wie schon angesprochen, auch unterschiedliche Mei­nungen dazu. Hätten Sie jemals darüber nachgedacht, ob Honig vegan ist, oder ver­stehen Sie die Meinung derer, die Honig als nicht vegan ansehen, gar nicht?

Ich selber esse sonst nicht vegetarisch, aber viel Fleisch verzehre ich nicht, darum fiel es mir nicht schwer, darauf zu verzich­ten. Anders ist es mit Käse oder Milchpro­dukten, die man öfter konsumiert. Ich habe aber keine Probleme mit vegetarischen Aufschnitten oder anderen Produkten, die zum Beispiel aus Tofu sind. Im Gegenteil, es ist eigentlich wie mit Käse und allen anderen Sachen auch. Es gibt immer eine Käsesorte, einen Aufstrich oder etwas, was einem nicht schmeckt, aber auch immer etwas Leckeres. Genauso ist das bei vegeta­rischen und veganen Speisen. Ich habe so­gar noch nie etwas aus Tofu oder Seitan ge­gessen, was ich ungenießbar fand, obwohl ich doch schon einige verschiedene Pro­dukte aus Tofu oder Seitan gegessen habe.

Ich teile auch die Meinung mancher überhaupt nicht, die meinen, Tofu wäre einfach nur ein Fleischersatz. Noch lächer­licher ist das, wenn diese Leute nicht mal genau wissen, aus was Tofu oder Seitan besteht und dass dies zwei völlig unter­schiedliche Lebensmittel sind. Während Tofu aus Soja besteht, wird Seitan aus Wei­zeneiweiß hergestellt. Allerdings ist es auch kein Wunder, dass der Eindruck entsteht, es seien bloß Ersatzprodukte, wenn auf den Verpackungen Sätze wie z.B. „wie Morta­della" stehen. Auch die Tatsache, dass es mittlerweile veganen „Käse" (sollte man eigentlich nicht Käse nennen, denn das ist es ja gerade nicht!) gibt, verstärkt den Ein­druck, dass Veganer Ersatzprodukte wol­len, was gar nicht zu der Einstellung passt, dass man auch ohne tierische Produkte leben kann.

Meine Meinung dazu ist, dass das Ge­rede über Ersatz völliger Schwachsinn ist. Es gibt ja auch genug Leute, die sich nicht vegan und nicht mal vegetarisch ernähren und trotzdem solche Produkte essen, weil sie gut schmecken (dazu gehöre ich zum Beispiel).

Ich habe also auf Tierisches verzich­tet, musste mich aber nicht erst überwinden, Tofu oder Seitan zu essen. Ich musste auch nicht wirklich speziell einkaufen, es war nur darauf zu achten, dass wirklich etwas Veganes da ist. Schwerer war es an langen Schultagen mit dem Mittagessen. Aber auch das ist zu lösen. Entweder man nimmt sich etwas zu essen mit oder fährt in der Mittagspause nach Hause, was aber auch nicht allen möglich ist; ich jedoch wohne sehr schulnah. Außerdem gibt es zumindest in unserer Mensa die Möglich­keit, mit vorheriger Anmeldung ein Essen zu bekommen, das auch für Allergiker oder eben Veganer geeignet ist. Für den kurzen Zeitraum von zwei Wochen und bei nur zwei Schultagen die Woche mit Mittagspause habe ich diese Möglichkeit nicht genutzt.

Das Verzichten selbst war völlig unpro­blematisch. Schwer war es nur, die norma­len Essgewohnheiten auszublenden, denn diese sind ziemlich stark eingeprägt und manchmal vergisst man dann doch kurz, dass man sich vegan ernährt. Ich glau­be aber, dass dies Veganern, die aus ihrer Überzeugung vegan essen, nicht passieren würde, denn meist fühlen sie sich ja nicht gut, wenn sie Tierisches essen. Anders war das bei mir, denn ich habe ja nichts gegen normalen Konsum tierischer Produkte, außer, dass ich konventionelle Sachen ab­artig finde. Vegan wird jedoch vor allem von Bio-Firmen angeboten, denn wer sich nicht von tierischen Erzeugnissen ernäh­ren möchte, achtet meist auch darauf, dass die Produkte „bio" sind.

In den zwei Wochen gab es bei mir zwei Situationen, in denen sich nochmal zeigte, dass die Essgewohnheiten doch stark eingeprägt sind. Im Nachhinein fällt mir nämlich ein, dass ich einmal vor lau­ter Hunger unbewusst zwei Kekse gegessen habe, die bestimmt nicht vegan waren.

Die andere Situation war beim Mitta­gessen, bei dem es als Beilage Falafel gab. Mitten beim Essen kam mir plötzlich der Gedanke, ob die Falafel überhaupt vegan sind. Es kommt ja oft vor, dass in einigen Produkten, aus mir unerklärlichen Grün­den, tierische Produkte drin sind, wie zum Beispiel Milchpulver. Erschrocken bin ich aufgesprungen und habe die Falafelpackung (es war eine Bio-Mischung, die man nur noch anrühren muss) aus dem Altpapier gekramt, um die Inhaltsstoffe zu überprüfen. Aber meine Sorge war unbe­gründet: Von der Packung schaute mir das Vegan-Zeichen entgegen... Glück gehabt!

Käthe

 

Flucht aus Tibet

Im Frühjahr 2000 gelingt einer klei­nen Gruppe Tibeter die Flucht aus ihrem Land nach Nord-Indien, unter ihnen die damals 7-jährige Pema und fünf weitere Kinder, die diese unglaublichen Strapa­zen nur knapp überleben. Auf ihrer Flucht über das Himalaya-Gebirge kämpfen sie wochenlang gegen Kälte, Schneemassen, Müdigkeit und die Patrouillen des chine­sischen Militärs, schlecht ausgerüstet, mit Turnschuhen und gerade so viel Proviant, dass sie ihn tragen können.

Aber sie haben Glück. Viel mehr Glück, als so viele andere Tibeter, als so viele an­dere tibetische Kinder, die auf dieser Flucht sterben. Halb erfroren, halb verhungert er­reichen sie ihr Ziel, zunächst Nepal, dann Dharamsala in Nord-Indien.

Herbst 2013 - Pema sitzt mir in Hannover-Bothfeld gegenüber. Auf diesen Tag habe ich schon lange gewartet. So viele Fragen habe ich an sie... Wie es damals alles abgelaufen ist, was seitdem passiert ist, wie es jetzt weitergeht in ihrem be­wegten Leben. Das Buch über ihre Flucht von Maria Blumencron habe ich natürlich gelesen. Aber darf ich überhaupt einfach so drauflos fragen? Vielleicht sitzen die Ver­letzungen dieser traumatischen Ereignisse doch zu tief, vielleicht möchte sie darüber gar nicht sprechen.

Das Sprechen ist dann auch schon die erste Schwierigkeit. Pema kann noch kein Deutsch, nur brüchig Englisch und mit starkem Akzent. Höflich und schüchtern versucht sie auf unsere Fragen zu antwor­ten, erzählt vor allem von persönlichen Umständen ihrer Flucht.

Aber warum fliehen die Tibeter eigent­lich aus ihrem Land?

Tibet hat eine sehr bewegte Geschich­te und viele Weltmächte haben schon An­sprüche auf das Land erhoben und Kriege um Tibet geführt. Seit 1950 China dort ein­marschiert ist, unterdrückt es vor den Au­gen der gesamten Welt das tibetische Volk, mit der Absicht, alles Tibetische auszura­dieren und Tibet als chinesische Provinz einzugliedern.

In diesem Leben aus Bevormundung, Unterdrückung, Armut und Terror sehen viele Tibeter für sich und vor allem für ihre Kinder in der Flucht die einzige Chance auf ein besseres Leben. Offiziell ausreisen dürfen sie nicht, sie besitzen nicht ein­mal Pässe, sind sozusagen staatenlos. Wie furchtbar muss das Leben in einem Land sein, in dem Eltern ihre kleinen Kinder über das höchste Gebirge der Welt ins Exil schicken, ohne zu wissen, ob sie sie jemals wiedersehen werden?

In ihrem Unglück hatten Pema und die fünf anderen Kinder nicht nur das Glück, ihre Flucht zu überleben, sondern auf die­ser auch auf die österreichische Autorin und Filmemacherin Maria Blumencron zu stoßen, die es sich damals zur Lebensauf­gabe gemacht hatte, den tibetischen Kin­dern zu helfen und dies zu dokumentieren. Zusammen mit Maria und einem kleinen Filmteam legten die Kinder damals den letzten Teil ihrer Reise ins indische Dharamsala zurück. Dort, wo auch der Dalai Lama - das tibetische Oberhaupt - seit 1959 im Exil lebt, konnten sie im tibe­tischen Kinderdorf leben, zur Schule ge­hen und ihre Schulabschlüsse machen.

Heute leben in diesen „Tibetan children villages" ca. 20.000 geflohene Kinder und Jugendliche aus Tibet. Über Maria Blumencron, die selbst in Deutschland lebt, bekamen die mittlerweile jungen Erwachsenen auch Kontakt nach Europa, in Pemas Fall nach Deutschland, zu einer Familie in Hannover.

Aber nicht Mutter und Vater dieser Familie waren dafür verantwortlich, son­dern der Sohn, der sich seit seinem 16. Le­bensjahr, seitdem er Marias Film "Flucht über den Himalaya" gesehen hatte, für die tibetischen Kinder engagiert. Er war es auch, der die vielen bürokratischen Hürden meisterte, um Pema 2013 für ein Aupair-Jahr nach Deutschland zu holen. Ich erinnere daran, dass Pema und die anderen Tibeter keine Pässe besitzen. In Hannover benötigten sie dann noch eine offizielle Aupair-Anstellung, eine offizi­elle Adresse, und da kamen wir ins Spiel, meine Familie, die seit Jahren in einem Auto mit "Free Tibet" - Aufkleber in Han­nover unterwegs war.

Ein fast unglaublicher Zufall, der Pema und mich zusammen führte...

Unsere gemeinsamen Ausflüge waren immer sehr schön. Ich kann mich noch sehr gut an den ersten Ausflug in ein han­noversches Museum erinnern. Anfangs war Pema sehr schüchtern und redete nicht viel, doch als sie eine Weltkugel ent­deckte, blühte sie auf. Sie zeigte uns Tibet, das Himalaya-Gebirge und Indien. Stolz erzählte sie, dass sie in der Schule immer sehr gut in Geografie war und wie faszi­nierend sie die Erde findet. Pema erzählte und erzählte und lachte dabei viel. Kaum zu glauben, dass diese junge Frau mit die­ser traurigen Kindheit so heiter über ihre Vergangenheit sprechen konnte.

Nach dem Museumsbesuch sind wir zu uns nach Hause gefahren und haben dort mit Pema zusammen eine tibetische Sup­pe nach dem Rezept ihrer Mutter gekocht. Als sie uns allen gut schmeckte, bemerk­te ich, wie stolz sie darüber war. Im Spiel mit meinem kleinen Bruder zeigte sie uns dann, wie gut sie mit Kindern umgehen kann. Im tibetischen Kinderdorf waren immer die älteren Kinder für die jüngeren verantwortlich.

Abends hat Pema uns dann noch ein Märchen aus Tibet erzählt - ich war dabei die Dolmetscherin für meine jüngeren Ge­schwister - und obwohl wir nicht alles ganz genau verstanden haben, war dies ein sehr schönes Erlebnis für uns alle und hat uns tief bewegt, auch weil wir bei Pema eine tiefe Traurigkeit spürten.

Pema war damals wie eine große Schwester für mich.

Winter 2015 - Pema und ich haben uns leider etwas aus den Augen verloren. Sie lebt noch immer in Deutschland, ist nach Ablauf des Aupair-Jahres nicht nach In­dien zurückgekehrt. Bis gestern dachten wir, dass sie in Frankfurt lebt, aber sie hat uns zu Weihnachten geschrieben und jetzt wissen wir, dass Pema auf ihrer langen Rei­se nun in Bonn angekommen ist.

Sie hat dort beruflich Fuß gefasst und obwohl ich mich darüber sehr für sie freue, hoffe ich doch auch, dass dies nicht ihre endgültige neue Heimat werden wird, dass sie ihr ursprüngliches Ziel, eines Tages wieder nach Tibet zurückzukehren, nicht aus den Augen verliert. Seit damals, vor 15 Jahren, hat sie ihre Mutter nicht wiederge­sehen.

Dieses persönliche Leid ist für mich bereits so unvorstellbar und doch ist das Leid des gesamten tibetischen Volkes noch um so vieles größer und wenn ich mir wünschen dürfte, unter welchem Umstand Pema eines Tages ihre Mutter wiedersehen wird, dann der, dass Tibet seine Freiheit zurückgegeben wurde.

Laya

 

Besuch beim Tod

Die kleine weiße Gittertür, auf der "Je­dem das Seine" steht, geht langsam auf und eine riesige Schotterfläche wird sichtbar. Sofort wird man leise und schaut auf das immense Gelände, das sich vor einem er­streckt.

Das ist das Konzentrationslager Bu­chenwald. 1937 fingen Häftlinge unter der Leitung der Deutschen an, es zu errichten. Am Anfang war das Lager auf politische Gegner, vorbestrafte Kriminelle und so­genannte „Asoziale" sowie Juden, Zeugen Jehovas und Homosexuelle ausgerichtet. Während des Zweiten Weltkriegs kommen immer mehr Menschen aus den anderen Ländern in das Lager. Bei der Befreiung sind 95 Prozent der Häftlinge keine Deutschen.

Als wir aus dem Linienbus aussteigen, sehen wir die ehemaligen SS-Kasernen und begeben uns zum jetzigen Informa­tionshaus. Kurze Zeit später kommt dann unsere Führerin Frau T., wir gehen alle ge­meinsam in den Seminarraum und stellen uns kurz vor, indem wir Bilder, historische Fotos und Zeichnungen, die auf dem Bo­den liegen, aufheben, sie beschreiben und unseren Namen sagen. Nach etwa einer Stunde voller Informationen über Buchenwald verlassen wir das Gebäude zu einem Rundgang, stellen uns im Halbkreis auf den sogenannten Carachoweg und hören uns den Beitrag von Frau T. an.

Der Carachoweg war der direkte Weg vom Bahnhof zum Lager Buchenwald. Dort befanden sich die Gebäude der La­gerverwaltung. Im Gebäude der Lager­verwaltung arbeiteten Häftlinge, die neue Häftlinge registrierten. Die Registrierung sah so aus: Der Häftling ging in das Gebäu­de und wurde von einem anderen Häftling registriert. Er schrieb auf einem gelben Zettel den Namen, das Geburtsdatum, die Haarfarbe, die Gesichtsform, die Augen­farbe, die Körpergröße und noch andere Details auf. Zudem teilte er den anderen in eine Kategorie, die die Lebensdauer in dem Lager entschied. Denn die meisten zuge­teilten politischen Häftlinge mussten kör­perlich nicht so schwere Arbeit verrichten, wohingegen die Juden körperlich schwere Arbeit bewerkstelligen mussten. Neu an­kommende „Transporte" wurden von der SS mit Hunden bis zum Lagertor gehetzt, so erhielt dieser Übergang vom Bahnhof bis zum Lager den Namen „Carachoweg".

Nach dem interessanten Beitrag über den Carachoweg zieht unsere Gruppe zum nicht weit entfernten sogenannten SS-Zoo. Jeder, der seine Mütze, Schal oder Hand­schuhe vergessen hat, merkt spätestens jetzt, dass man bei diesen Temperaturen doch lieber drinnen sitzen möchte.

Der SS-Zoo liegt gleich neben dem La­gergelände. Der Bau des Zoos begann im Frühjahr 1938 und an ihm beteiligt wa­ren über 100 Häftlinge. Hunderte Kubik­meter Holz und Steine wurden von meist jüdischen Häftlingen per Hand bearbei­tet. Der Zoo kostete den „NS-Staat" rund 135.000 Reichsmark. Täglich arbeiteten 33 Häftlinge in dem Zoo und kümmerten sich unter anderem um fünf Paviane und vier Braunbären.

Die letzten Worte der Führerin Frau T. verstummen und die frierende 10. Klasse begibt sich nun in das Innere des Lagergeländes. Dort angekommen, stellen sich alle in einen Halbkreis und sie erzählt et­was über den Appellplatz, auf dem wir nun stehen.

Hier fand allmorgendlich der Appell statt. Zu diesem Appell mussten täglich 20.000 Häftlinge im Morgengrauen auf­marschieren. Jeder Einzelne wurde auf­gerufen mit der Nummer, die ihm bei der Inhaftierung gegeben worden war. Diese Prozedur wiederholte sich nach der langen Zwangsarbeit am Abend. Es gibt vereinzelt noch sogenannte weiße Travertinsteine, die dazu da waren, den Häftlingen zu zei­gen, wo sie sich hinstellen sollen. Die Steine verdeutlichen einem nochmal den eigent­lichen Zweck des Appells. Marschieren, antreten, blockweise formieren, Mützen herunterreißen, endlos stehen, bis auch der letzte Häftling da ist, oder stunden­lang singen. Es gab einige Appelle, die bis zu 72 Stunden dauerten und keinerlei Sinn hatten. Sich dem Drill zu verweigern, war tödlich.

Unter der Führung von Frau T., setzt sich die Klasse im langsamen Tempo über die nach unten laufende Schotterfläche in Bewegung, vorbei an den Umrissen der Ba­racken, die mit hellen Steinen in den Boden gezeichnet sind.

Das Lager Buchenwald enthielt eines der größten Barackenlager des KZ-Sy­stems. Das Hauptlager bestand aus neun Barackenreihen, die von West nach Ost durchnummeriert waren. Jede Baracke war etwa 30 Meter lang und 8 bis 10 Meter breit. Die Baracken wurden innerhalb von 4 Jahren erbaut und waren für zunächst 8.000 Häftlinge bestimmt. Die Wände wa­ren knapp über 2 Meter hoch und die Höhe stieg zur Hausmitte an. Die Baracken wa­ren meist provisorische Gebäude, die der vorübergehenden, massenhaften Unter­bringung von Personen wie Soldaten, Arbeitern, Kriegsgefangenen oder Zwangs­arbeitern dienten. Die Menschen, die mit oft 400 bis 700 weiteren in den Baracken untergebracht waren, schliefen auf Zwi­schenböden, die dreigeschossige Schlafko­jen bildeten. Es wird auch von 900 bis 2000 Personen in den Baracken berichtet. 10,11 oder sogar 12 Personen mussten auf einer Fläche von 4 Metern Breite schlafen. In den Holzbaracken, die eigentlich als Pferdestäl­le für die Armee konstruiert waren, waren die Bedingungen besonders schlimm.

Fröstelnd erreichen wir das nicht mehr existierende Lagerbordell. Frau T. erzählt in einigen Sätzen, was es damit auf sich hat. Das Lagerbordell wurde am 16. Juli 1943 in Buchenwald errichtet. Während der Zeit zwischen 1942 und 1945 wurden in neun weiteren Konzentrationslagern Lagerbordelle eingerichtet. Schätzungen zufolge wurden 210 Frauen zur Prostitu­tion in den Lagern gezwungen. Die Lager­bordelle sollten die Arbeitsproduktivität der männlichen Häftlinge steigern. Meist suchten die Männer aber auch einfach nur Zuflucht bei den Frauen, um mit ihnen zu reden und mal abzuschalten von der Welt außerhalb des Lagerbordells.

Anschließend besichtigen wir die ein­zige noch stehende Baracke. Diese Baracke war für verletzte oder kranke Häftlinge bestimmt, sie gehörte zum Krankenlager, hatte eine eigene Quarantänestation und wurde größtenteils von anderen Häftlin­gen geführt. Die Baracke war eine der er­sten Baracken, die es in Buchenwald gab. Die Häftlinge konnten sich in der Quaran­tänestation über geheime Dinge unterhal­ten und neue Dinge planen. Denn die SS-Ärzte wollten sich nicht mit den teilweise hochansteckenden Krankheiten infizieren.

Danach schreitet die 10. Klasse im Gän­semarsch rüber zum sogenannten Krema­torium. Dort angekommen, sagt Frau T., dass der nächste Teil freiwillig sei und nie­mand gezwungen werde, in die einzelnen Räume des Krematoriums zu gehen.

Das Krematorium wurde im Jahr 1940 von der Firma Topf und Söhne nach den Bedürfnissen der SS gebaut. Häftlinge, die in dem Gebäude untergebracht waren, verrichteten die Arbeit und äscherten die Toten ein. In einem anderen Gebäudeteil befindet sich einer der Sezierräume der pathologischen Abteilung, wo man menschenunwürdige Dinge tat.

Im Keller des Krematoriums sammel­te man die Leichen, die per Aufzug in den Verbrennungsraum geschleppt und dort dann verbrannt wurden. Der Keller war aber auch eine Hinrichtungsstätte für mehr als 1100 Menschen. Im Nebengebäu­de des Krematoriums gibt es ein Modell von der Genickschussanlage, die die SS in einem Pferdestall außerhalb des Häft­lingslager erbaut hatte und mit Hilfe dieser grausamen Anlage mehr als 8000 sowje­tische Kriegsgefangene tötete.

Nach diesen ganzen Eindrücken ver­sammeln wir uns um die Gedenktafel, die flach auf dem ehemaligen Appellplatz neben dem Eingang des Lagers liegt, und Frau T. verabschiedet sich.

Die Gedenktafel ist eine auf dem Bo­den liegende, quadratische Metallplatte, die den provisorischen Obelisken aus Holz zum 50. Jahrestag der Befreiung abgelöst hat. Seitdem wird die Platte Tag und Nacht, Sommer und Winter auf menschliche Kör­pertemperatur (37 Grad Celsius) erwärmt. Auf der Platte sind die Namen der Opfer-Nationalitäten eingetragen.

Anschließend verlässt die gesamte 10. Klasse das Gelände durch die kleine wei­ße Gittertür, die kurz danach geschlossen wird.

Philipp