Wegbereiter für den Materialismus

Gedanken von Marcus Kraneburg

Zwei Ereignisse haben in der jüngeren Geschichte das Selbstempfinden des heutigen Menschen maßgeblich verändert. Beide Ereignisse erschütterten unser Bewusstsein gleich mächtigen Erdbeben. Sie waren entscheidende Wegbereiter für einen Materialismus, welchen wir als notwendiges Durchgangsstadium für unsere Bewusstseins-Ent-Wicklung betrachten können.

Das erste dieser beiden Ereignisse vollzog sich im Jahre 1543. Ausgelöst wurde es von einem Mann, der in einem Ort des heutigen Polen geboren wurde. Als der Knabe zehn Jahre alt war, starb der Vater, woraufhin sein Onkel, der Bischof von Ermland, für die weitere Ausbildung sorgte. Nach dem Studium der Mathematik und Astronomie vermittelte der Onkel dem nunmehr 22-Jährigen eine Stelle als Domherr. Man gewährte ihm einen mehrjährigen Urlaub, damit er in Italien an der Universität in Bologna das kanonische Recht (Kirchenrecht) und in Padua Medizin studieren konnte. Mit 30 Jahren promovierte er und begab sich – vom Onkel zum Sekretär und Leibarzt berufen – wiederum nach Polen. Neben seinen beruflichen Verpflichtungen widmete er sich nun immer intensiver dem Studium der Himmelskörper. Nach vielen Jahren unablässigen Forschens war 1530 das Manuskript zu einem epochalen Werk fertiggestellt. Der jetzt 57-Jährige zögerte jedoch weitere 13 Jahre, es zu veröffentlichen. Das sechsbändige Werk erschien schließlich genau am Tag seines Todes, dem 24. Mai 1543. Es trägt den Namen „De revolutionibus orbium coelestium“ („Über die Kreisbewegungen der Weltkörper“). Gewidmet war es Papst Paul III., geschrieben hat es Nikolaus Kopernikus. Erst 70 Jahre später (1633) setzte die Kirche das Werk auf den Index. Für ähnliche Behauptungen wurde allerdings Giordano Bruno schon im Jahre 1600 in Rom von der Heiligen Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Nikolaus Kopernikus beweist in seinem Werk, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Kosmos steht. Für die damalige Zeit eine ungeheure Vorstellung. Heute macht man sich kaum ein Bild davon, in welch starker Weise diese Erkenntnis auf das menschliche Bewusstsein wirkte. Sie gab der Geographie unserer Seelen quasi ein ganz neues Gesicht. Der Mensch empfand sich gleichsam hinweggerissen aus dem festen Zentrum des Kosmos‘ und hinauskatapultiert auf einen kleinen Planeten in die Peripherie eines unendlich großen und dunklen Weltalls. Die göttliche Ordnung von oben und unten, von Gut und Böse und von Himmel und Hölle geriet in Bewegung. Das bislang Sicher-Gewusste begann zu wanken.

Heute erscheint uns die Stellung von Erde und Sonne nicht mehr sonderlich aufregend. Im Gegenteil: Wenn der Mensch des 21. Jahrhunderts über astronomische Weltbilder spricht, so gedenkt er gewissermaßen mit einem nachsichtigen Lächeln derjenigen Menschheit, welche die Erde noch ganz im Zentrum der göttlichen Schöpfung sah. Wie kamen denn die Menschen zu einem solch „naiven“ Weltbild? Da führen wir heute gerne zwei einfache Beobachtungen an: Die Erde, auf der der Mensch stand, wurde als unbeweglich wahrgenommen, aber die Sonne, die jeden Tag am Himmel zu sehen war, zog gleichmäßig ihre Bahn um ihn herum.

Bei diesem naiven Weltbild wird jedoch gerne übersehen, dass der damalige Mensch noch überhaupt kein Interesse daran hatte, den Kosmos auf physische Weise zu betrachten, geschweige denn ihn zu erforschen. Dieses Bedürfnis entspringt vielmehr unserer heutigen Erkenntnisart, die beim Auftreten einer Wirkung immer sofort nach einer Ursache sucht.

Das wäre dem damaligen Menschen gar nicht in den Sinn gekommen. Die physische Dimension des Lebens wurde noch nicht als relevant empfunden. Ein Beispiel dafür finden wir in der Werkzeugentwicklung des Menschen. Weit über eine Million Jahre stellte man fast ausschließlich einfache Steinwerkzeuge her. Damit war dem „Forscherdrang“ Genüge getan. Eine Suche nach besseren Materialien wäre durchaus möglich gewesen, hätte aber eine Beschäftigung mit den Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt vorausgesetzt. Für diese Fragen gab es in den Gemütern der Menschen dazumal noch keinen Raum.

Auf etwas ganz anderes richtete der Mensch stattdessen sein Streben. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stand die geistige Seite der Wirklichkeit. Diese wurde noch nicht abstrakt-jenseitig erlebt, sondern für die damalige Menschheit war das Ineinanderweben übersinnlicher Sphären real erlebbar. Unmittelbar wurde das Wirken höherer Wesen am eigenen Dasein empfunden. Es wurde noch wahrgenommen, wie die geistigen Hierarchien den Menschen helfend umkreisten. Dies war der eigentliche Grund, weshalb sich der Mensch im Zentrum der Welt wähnte. Wie ein Kind, das sich von seinen Eltern beschützt fühlt, empfand sich der Mensch „im Schoße der Gottheit“.  Geistig gesehen empfand er sich in ihrer Mitte, der physische Mittelpunkt des Weltalls interessierte ihn noch überhaupt nicht.

Claudius Ptolemäus hat dieses alte Weltempfinden veräußerlicht. Er abstrahierte aus diesem Empfinden im 2. Jahrhundert n. Chr. das „Ptolemäische Weltbild“. Er verfasste das erste Handbuch zur Astronomie („Megale Syntaxis“ - „größte Zusammenstellung“) und legte darin dar, wie die Planeten seiner Meinung nach auf vollkommenen Kreisbahnen um die Erde verliefen.

Diese Anschauung hatte weitreichende Konsequenzen. Claudius Ptolemäus setzte einen Schlussstrich unter die geistoffene Bewusstseinsepoche der frühen Menschheit und erklärte die Erde zum physischen Mittelpunkt des Weltalls. Für ihn drehten sich gleich einer riesigen Weltenmechanik alle Planeten um die Erde. Dadurch wurden die geistigen Verhältnisse kurzerhand auf die physischen übertragen. Die Empfindung bezüglich der zentralen Bedeutung des Menschen für den Kosmos geriet im Gegenzug in Vergessenheit.

Für die physische Wirklichkeit korrigierte Kopernikus diesen Irrtum 1400 Jahre später. Er rückte die Sonne in den Mittelpunkt des Planetensystems. Die Frage nach der geistigen Bedeutung des Menschen für den Kosmos wurde von dem Kopernikanischen Weltbild hingegen gar nicht mehr gestellt. Für das Bewusstsein des Menschen blieb dies nicht ohne Folgen. Die einstmalige Seelensicherheit schwand. Von nun an erlebte sich die Menschheit in Bezug auf die tieferen Fragen des Lebens zunehmend verunsichert und heimatlos. Bis heute sind wir immer wieder mit der nahezu gespenstischen Ungewissheit konfrontiert: Ist es nicht vielleicht doch so, dass der Mensch ohne Sinn auf einem bedeutungslosen Planeten einfach nur durchs All schwebt? 

Ein zweites Ereignis griff in noch stärkerer Weise als das Kopernikanische Weltbild in die Bewusstseinsverhältnisse des Menschen ein. Allerdings konnte es dabei schon auf die seelische Verunsicherung des ersten bauen. Nach jahrzehntelanger wissenschaftlicher Arbeit veröffentlicht Charles Darwin (1809 – 1882) im Jahre 1859 seine Forschungsergebnisse. Die Erstauflage seines Buches „Die Entstehung der Arten“ betrug damals 1250 Exemplare und war noch am gleichen Tag vergriffen. Dies zeigt, wie Darwins Thema gleichsam in der Luft lag. Seine revolutionären Einsichten beruhen auf vier Grundannahmen:

  1. Die Welt befindet sich nicht in einem statischen Zustand, sondern verändert und entwickelt sich fortwährend weiter.
  2. Diese Weiterentwicklung (Evolution) geht Schritt für Schritt kontinuierlich voran. Die Natur macht keine Sprünge.
  3. Alle Lebewesen, so auch der Mensch, gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück.
  4. Die treibende Kraft hinter der Evolution des Lebens ist die natürliche Auslese innerhalb von Populationen, die in zwei Schritten abläuft. Der erste Schritt besteht in der Erzeugung von Nachwuchs mit vielen unterschiedlichen Eigenschaften. Der zweite Schritt ist die Auswahl der am besten angepassten Lebewesen im Kampf ums Dasein.

Mit dem Titel seines 1871 folgenden Buches spitzte Darwin die Bedeutung seiner Erkenntnisse nochmals zu: „Die Abstammung des Menschen“. Die konsequente Anwendung der darin formulierten Gedanken bedeutete, dass nicht nur alle Lebewesen, sondern auch »die Zitadelle selbst«, wie Darwin den menschlichen Geist nannte, auf einen materiellen Ursprung zurückgingen. Dieser Gedanke blieb nicht ohne Folgen. Selbst bei kleineren Kindern gehört es heute nach 150 Jahren zur Allgemeinbildung, dass der Mensch vom Affen abstamme.

Fassen wir zusammen. Das Kopernikanische Weltbild nahm dem Menschen seinen geistigen Platz in der Welt. Innerlich geriet er ins Taumeln. Auf diesem verunsicherten Boden behauptete nun der Darwinismus, dass wir im Grunde nur intelligentere Tiere seien. Beide Ereignisse schufen wesentliche Grundlagen für den heutigen Materialismus, von dem oben gesagt wurde, dass er ein notwendiges Durchgangsstadium für unsere ICH-Entwicklung sei. Durchgang heißt jedoch nicht stehenbleiben und auch nicht zurückgehen, sondern fortschreiten.

Dieser kleine Aufsatz soll mit der Frage enden, was unser ICH durch den Materialismus an Fähigkeiten hat entwickeln können und zu welchem neuen Ufer wir nun aufbrechen wollen.   

Ihr Kommentar