Reitpädagogik im Kindergarten

Ein Beitrag von Horst Hellmann

Als Waldorflehrer im Ruhestand habe ich seit einiger Zeit Gelegenheit die Reitpädagogin Elke Krupka zu begleiten. Sie fährt mit zwei Ponys einmal in der Woche zum Waldorfkindergarten, dann wandern die etwa zwanzig drei- bis sechsjährigen Kinder vier Stunden am Vormittag. In einem kleinen Rucksack tragen sie ihr Vesperbrot bis zum Lagerplatz, wo sie Gelegenheit zum Klettern und zum Spielen haben. Was mir auf diesen Ausflügen auffällt, möchte ich stichwortartig festhalten.

Die Ponys werden im Pferdeanhänger zum Kindergarten gebracht. Die Vorschulkinder sind beim Ausladen dabei, sie freuen sich auf den Augenblick, wo sie den Wagen öffnen dürfen und sehen wie die Pferde vorsichtig rückwärts herauskommen. Dann helfen sie beim Striegeln, Bürsten und Hufereinigen. Die Pferdehaare bringen sie zu einer Hecke, damit die Vögel sie dort als Nistmaterial finden können. Sobald die Ponys fertig sind und die Satteldecken aufgelegt sind, kommen alle anderen Kinder und begrüßen die Pferdchen. Jetzt wird die Reihenfolge der Kinder eingeteilt: ein Kind reitet und gibt seinen Rucksack einem anderen Kind, das als drittes Kind drankommt, das zweite darf mit dem Erwachsenen den Führstrick halten, alle drei haben einen Schutzhelm auf. Beim Wandern folgen alle übrigen Kinder hinter den Ponys. Wir wandern immer die gleichen Wege, so erleben die Kinder die Jahreszeiten, den Wechsel in der Natur, das Wachsen und Werden, Wind und Wetter.

Immer wieder wechseln sich die Reiter ab. Auf dem Pferd machen alle sehr vielfältige Erfahrungen: die Hufe klappern, es schaukelt so schön, beim Trab wird man tüchtig durchgeschüttelt, man kann den Griff loslassen, sich rücklings setzen und den Freunden zuwinken, sich hinlegen und schaukeln lassen und vieles mehr. So entwickeln die Kinder ihren Mut, ihr Selbstvertrauen, das Gleichgewichtsgefühl, auch ein Empfinden für das Tier und man baut eine innige Beziehung zu ihm auf.

Die Kinder erleben, dass jedes der Ponys einen eigenen Charakter hat, seinen eigenen Kopf, seine Gefühle, Launen und Vorlieben. So lernen die Kinder ein richtiges Verhalten gegenüber den Tieren. Sie beobachten wie und was die Pferde fressen, wie geschickt die Lippen sind, lauschen den Fressgeräuschen bei Äpfeln, Mohrrüben, Brot oder Gras, sehen, wie der Speichel fließt, sie riechen das Fell, den Schweiß, den Urin, die Pferdeäpfel, sie sehen wie ein Pferd seine Notdurft verrichtet, wie man die Pferdeäpfel beseitigt, sie fühlen die Wärme des Felles, sie kuscheln, streicheln, loben und singen. Da gibt es viel zu erzählen und sich mitzuteilen. Die Ponys scheuern sich am Gesträuch oder am Pferdeführer, wenn es irgendwo juckt, oder sie berühren sich auch gegenseitig.

Wir nehmen immer einen Wallach und eine Stute mit und so sehen die Kinder die Unterschiede im Verhalten. Ein Junge meinte zu mir: “ Ich weiß, wer Junge ist und wer ein Mädchen: Das Mädchen hat das hübsche weiß-braune Fell und der Junge ist so dunkelbraun“. Zufällig stimmten Farbe und Geschlecht überein. Die Kinder bringen gerne den Ponys etwas zu fressen mit, dann legen sie es auf die Erde und freuen sich, wie gerne die Pferde ihre Gaben knabbern.

Am Schluss verabschieden sich die Kinder von den Ponys, bedanken sich, streicheln nochmals und die Vorschulkinder helfen beim Verladen und Schließen des Wagens. Ein an Sinneserleben ungeheuer reicher Vormittag ist vergangen und alle freuen sich auf die nächste Woche, bis wieder die Ponys kommen werden. Wie wichtig ist doch heutzutage solche Begegnung mit der Welt, wo üblicher Weise immerfort gewarnt wird, dies und jenes nicht anzufassen, denn es ist gefährlich, giftig oder unsauber. Überall Verbote und übertriebene Hygiene, da wird die Natur zur Lebensgefahr, feindlich den Menschen gegenüber. Wie kann man da als Kind Vertrauen und Liebe entwickeln, Bewunderung, Hingabe, Neugier? Diese Qualitäten sind jedoch die Grundlagen aller Wissenschaft, der Beginn des Fragens! Die Begegnung mit den Ponys veranlagt in den Kindern die Grundtugenden allen wissenschaftlichen Forschens!

….Und noch ein Aspekt muss genannt werden, die soziale Erziehung. Ich habe bisher nie einen Streit unter den Kindern erlebt, ausdauernd und einander helfend bewältigen sie die lange Wanderung. Sie lernen zu warten, zu tragen, zu halten, sie üben Vorsicht, Rücksichtnahme, Geduld, sie lernen Vorausschau, Umsicht, Absichten zu erkennen, Gewohnheiten, Rituale, Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft und auch dass ihnen geholfen wird, sie erleben Vertrauen und aus der Sache heraus Gehorsam, sie schärfen ihre Beobachtungsfähigkeit und alles verhilft dazu, in sich die Grundlagen für eine gesunde Individualität zu entwickeln. Eine intensivere Schulung der zwölf Sinne und des Charakters lässt sich kaum vorstellen! Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein basieren auch auf einem gesunden Körpergefühl, in der Reitpädagogik werden dafür diese Grundlagen in das noch träumende Wesen der Kinder gelegt.

Abschließend noch ein Gedanke zur Reitpädagogik und Reittherapie. Als Erwachsene sollten wir den Kindern nicht mit diesen Begriffen entgegentreten, denn leicht entsteht in ihnen das Gefühl pädagogisiert oder therapiert zu werden und das erweckt den schrecklichen Gedanken „mit mir ist etwas nicht richtig; ich bin nicht ok!“ Man sollte, wenn man mit Kindern einzeln oder als Gruppe arbeitet, es mit einem positiven Ausdruck benennen, wie etwa „Pony-Club“, denn zum PONYCLUB gehen doch alle Kinder gerne hin.

Durch Frau Krupkas Ponys habe ich ganz neue Einsichten gewonnen über das, was den Kindern heute geboten werden kann, kein noch so guter „Discovery Chanel“ kann diese besondere Art von Naturbegegnung ersetzen.

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