Sehnsucht nach einer verlorenen Welt

Rudolf Steiner, GA 105, aus dem 9. Vortrag

„In uralten Zeiten hatte man den Gott selbst als Bild erlebt. Jetzt hatte sich das Bild in die Verborgenheit zurückgezogen, und man suchte alle Stärke aufzubringen, um den Gott aus dem Ich, wo er gestaltlos ist, in Vorstellung und Denken herauszuholen, eine Idee, eine Kraft des Gottes zu fassen und zu fühlen.

Das war aber nicht sofort möglich; in den ersten Zeiten der nachatlantischen Kulturen war die Erinnerung an das, was man verloren hatte, noch zu stark, zu groß; die Seele fühlte: das Tor hat sich geschlossen, und die Sehnsucht, wieder hinauf­zukommen in diese geistige Welt, war zu gewaltig.

Daher bildete sich als eine erste Kulturepoche diejenige aus, die vorzugsweise dieses Ge­fühl, die Sehnsucht nach der verlorenen, verborgenen geistigen Welt empfand; die in göttlicher Verehrung zu den Eingeweihten hinaufsah und flehte: Lasst uns teilhaft werden dieser verlorenen Welt. - Und unter dem Einflüsse dieser Eingeweihten ward durch koloniale Strö­mung die uralte indische Kultur begründet, die vorvedische, wunder­bare, Schauer der Ehrfurcht weckende Kultur, die in den Veden ihren letzten Niederschlag gefunden hat; die Kultur, in der die Sehnsucht nach der geistigen Welt so groß war, dass man danach strebte, auf künstlichem Wege einen Zusammenhang mit den alten Göttern und Geistern wiederzugewinnen.

Die Sehnsucht, aus dieser Welt zu fliehen, in die man eingetreten war, die entstand als starkes Gefühl in dieser ersten nachatlantischen Kulturepoche. Und dieses Gefühl sehen wir auf dem Grunde der Seelen, die noch die Unterweisung der Eingeweih­ten, der heiligen Rishis, erfahren durften. Wir sehen, wie sich bei ihnen dies Gefühl entwickelt: Die Welt, die wir um uns herum sehen, die Welt, die wir uns jetzt errungen haben, die Welt des physischen Planes ist nur eine Illusion, sie ist wertlos, sie ist Maja; wertvoll aber ist die Welt, die hinter diesem täuschenden physischen Plane liegt. - Und so entwickelt sich das Gefühl von der Wertlosigkeit des physischen Pla­nes, von der Notwendigkeit, ihn zu fliehen und zum Geistigen zu ge­langen; es entwickelt sich dasjenige, was wir als die Basis dieser uralten Kultur kennen, was aber damit zusammenhängt, dass der Mensch sein starkes Persönlichkeitsgefühl verlieren muss, wenn er sich sozusagen ganz und gar herausgestellt sieht aus dem Göttlichen und in der Sehn­sucht nach diesem Göttlichen lebt. Er strebt danach, ganz aufzugehen im Göttlichen, mit Auslöschung seiner Persönlichkeit; lieber ist ihm die Vernichtung des Eigenwertes der Persönlichkeit als das Leben in­nerhalb dieser Persönlichkeit. Wir müssen diese alte Kultur vorzugs­weise als Stimmung begreifen, dann verstehen wir jenes Fliehen vor dem Materiellen: wie der Mensch, wenn er das Göttliche aufsuchen wollte, frei sein musste von den Banden des Sinnlichen, wie er heraus sein musste aus aller Illusion, aller Maja."

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