Der Tod von Hiroshima (ERZÄHLUNG)

Von Otto Zierer

Auch nach der Kapitulation Deutschlands kämpft Japan noch um die letzten Stützpunkte vor den Hauptinseln. In seiner mehr als zweitausendjährigen Geschichte hat das »Land der aufgehen­den Sonne« noch nie einen Krieg verloren und keinen Feind auf seinen Inseln erlebt. Aber nun steht es allein. Auch Sowjetrussland hat den Krieg er­öffnet und schickt seine Heere nach der Mandschurei und nach Korea.

Amerika hat um diese Zeit zwei Atombomben zum Einsatz be­reit. Diese neuartigen Zerstörungsmittel sind unter ungeheurem Aufwand von Arbeit, Material und Geist von amerikanischen und europäischen Wissenschaftlern entwickelt und gebaut worden. Amerika hat für dieses Unternehmen eine Anzahl streng geheimer Plätze eingerichtet: in Wüsten, Gebirgen und in abgesperrten Tä­lern. Die bedeutendsten »Väter der Atombombe« waren Juden, die Hitler durch seine Rassenverfolgung aus Europa verjagt hatte: Einstein und Oppenheimer kamen aus Deutschland, Lise Meitner aus Österreich, Teller aus Ungarn und Fermi aus Italien. Jetzt -1945 - schlägt ein Komitee dem Präsidenten Truman vor, die Bomben ohne vorherige Warnung auf Japan abzuwerfen und da­mit den Krieg zu beenden. Dieser Meinung schließt sich Kriegsmi­nister Stimson an.

Er weiß, dass Japan immer noch eine Armee von fünf Millionen Mann unter Waffen hat. Allein fünftausend Selbstmordflieger ste­hen bereit, sich mitsamt ihren sprengstoffgeladenen Maschinen auf amerikanische Schiffe zu stürzen.

Als man meint, dass die Bomben auf Japan fallen müssen, lässt sich Kriegsminister Stimson in Washington eine Liste von japani­schen Städten vorlegen. Es sind Städte mit Industrien, Hafenanla­gen und volkreichen, dichtgedrängten Straßen. Stimson wählt un­ter anderem die Städte Hiroshima und Nagasaki aus. Die fertigen Atombomben werden in Teilen antransportiert. Der schwere Kreuzer Indianapolis läuft die nahe Okinawa gelegene Insel Tinian an und lädt schwere Kisten und dick verpackte Maschinen­teile aus. Tags darauf landen drei Bomber vom Typ B 29 und brin­gen den Rest der Bombenteile. Eine Spezialmannschaft setzt sie in einer streng bewachten Halle zusammen.

Der Flugplatz von Tinian füllt sich mit immer mehr Staffeln viermotoriger Flugzeuge. Der schrecklichste Einsatz des Zweiten Weltkrieges beginnt. Weit drüben überm Meer liegt die umstürmte Festung Japan. Tagelang hat man die Aufmerksamkeit der Japaner eingeschläfert. Jeden Morgen gegen 9 Uhr kreisen ein oder zwei Flugzeuge über den Städten, ohne Bomben abzuwerfen. Die Japaner nehmen diese »Erkundungsflüge« nicht mehr ernst.

Und doch wird diesmal in einer dieser Maschinen der Atomtod die Grenze der Nation überfliegen. Eines der Flugzeuge wird die erste Plutonium-Bombe tragen. Dazu wählt man die Enola Gay aus. Das viermotorige Flugzeug hat seinen Namen von der Mutter des Kommandanten, Oberst Tibetts. Scheinwerfer strahlen hell die Startbahnen von Tinian an. Auf den Abrollbahnen stehen Bomber in dichten Reihen. Es ist gleich 3 Uhr nachts. In der Mitte des B-29-Bomber-Pulks steht die Enola Gay.

Oberst Tibetts hat den Kopfhörer aufgesetzt. Captain Parson und Captain Lewis melden, dass die Maschinen startklar sind. Die Horstkommandantur gibt das Zeichen zum Start. Die Motoren brüllen auf, ein Zittern läuft durch die Riesenvögel. Ohrenbetäu­bender Lärm verschlingt jedes Wort. Schattengleich rollen die Be­gleitbomber über das Feld. Sie heben langsam ab und verschwin­den in der Nacht.

Jetzt ist die Reihe an der Enoly Gay. Sie bebt, setzt an, holpert schwerfällig über die Startbahn und zieht dann hoch. Vor dem Fenster des Piloten steht der Sternenhimmel über dem Pazifik.

Die Geschwader haben den Kurs gewechselt. Sie fliegen weiter nördlich einen Ablenkungsangriff. Gleich wird die Küstenlinie Ja­pans auftauchen. Es ist Tag geworden, und lockere Wolkenfetzen treiben an den Fenstern vorbei. Die Wetterstation funkt: »Klares Wetter über Hiroshima ... kla­res Wetter über Hiroshima .. .«

Das ist die Entscheidung. Hiroshima wird das Ziel sein, nicht Nagasaki oder eines der anderen Ausweichziele. Damit ist das To­desurteil über die Kinder gesprochen, die eben jetzt aus den Betten aufstehen, über die Frauen, die ihren Werkstätten zustreben, und die mageren, kleinen Arbeiter, die von den Nachtschichten nach Hause eilen. Die Enola Gay fliegt mit fünfhundert Stundenkilome­tern nach Nordwesten. Rotgesäumte Zirruswölkchen stehen hoch über ihr, der Dunst reißt auf. In der Ferne taucht ein Streifen aus dem grünen Meer auf, und unten huscht der Schatten des Flugzeu­ges über den Ozean.

Captain Lewis hat das Glas an den Augen. Er blickt in das Geschachtel der Straßen und Häuser hinunter. Trotz der sechstausend Meter Höhe kann man die Eisenbahnen und die rauchenden Schlote der Fabriken erkennen. Es ist Hiroshima, die todgeweihte Stadt.

Zwei Begleitmaschinen tauchen auf. Sie huschen etwas tiefer dahin, um die Aufmerksamkeit der Japaner auf sich zu ziehen. Doch die Flugabwehr scheint nicht viel von den paar Flugzeugen zu halten. Der Bordfunker meldet, dass drunten Entwarnung gege­ben worden sei. »Gott sei ihnen gnädig!« sagt Oberst Tibetts. »Sie wissen nicht, dass sie an der Schwelle der Hölle stehen!« »Achtung!« meldet Parson durch die Bordverständigung. »Ich setze zum Zielflug an: Mitte Hiroshima, Oberst!«

Die Besatzung blickt gebannt hinab. Die Enola Gay kurvt ein und stößt wie ein Schatten über die Landkarte hin. In der Mitte der Großstadt ragt als auffälliges Gebäude das halbrunde Hoch­haus eines Kaufhauses empor. Captain Parson visiert es an. »Bombe ab!« ruft Oberst Tibetts und krampft die Hände um den Steuerknüppel. Er ist bleich wie ein Tuch. Die B 29 scheint sich erleichtert zu schütteln, als die Atombombe aus dem Schacht fällt. Die Männer zählen die Herzschläge, blicken aus der Maschine nach rückwärts.

Jede Sekunde ist gewonnen, die sie weiter von dem zu erwar­tenden Explosionspilz fortträgt. Da - ein ungeheurer Schwall von Licht schlägt zum Himmel auf. Die Augen sind geblendet, fast blind. Hiroshima zerstiebt. Radioaktive Stürme rasen über das Feld, das einst die Stadt getragen hat. Aus der Mitte wächst ein Rauch­pilz, der die dünnen Wolkenschleier durchstößt und sich wie eine drohende Faust zum Himmel reckt.

Der amerikanische Kriegsminister Henry Stimson schrieb einige Zeit später in der Pariser Zeitung »L'AURORE« über den Abwurf der Atombombe: »Ein Bomber löste am 6. August 1945 eine einzelne Bombe über Hiroshima. Eine weitere Bombe wurde drei Tage später über Na­gasaki abgeworfen - und der Krieg war beendet. Die Japaner glaubten, die USA könnten den Angriff endlos fortsetzen. Es wa­ren nicht die beiden Bomben, welche die Kapitulation herbeiführ­ten, sondern die Tatsache, welche Zerstörungen diese Bomben in den Orten anrichteten, und die Angst vor dem Gedanken, andere Angriffe könnten folgen ...«

Das klingt in der Sprache des Politikers sehr nüchtern. Die Wirklichkeit war unvorstellbar schrecklicher. Von den rund vierhunderttausend Einwohnern Hiroshimas waren in Augenblicksschnelle mehr als hunderttausend zerstäubt, weitere Hun­derttausende mit fast unheilbaren Verbrennungen, Erblindungen, Verkrüppelungen geschlagen. Pflanze, Tier, Wasser, Luft und Erde waren für lange durch Strahlungen verseucht. Und noch Jahr­zehnte nach dieser Katastrophe aus Menschenhand siechen in den Krankenhäusern Japans unheilbare Märtyrer dahin. Selbst die un­geborenen Kinder einer fernen Zukunft hatten Schäden und Missbildungen durch die radioaktive Wirkung davongetragen.

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