Lesen lernen (2. Schuljahr)
Ein Beitrag von Eugen Riesterer (Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek)
Bei der Einführung in das Rechnen und Schreiben im 1. Schuljahr gehen wir immer vom Ganzen ins Einzelne (GA 294, 21.8.19). Diese Methode kann auch beim Lesen lernen das Vermögen eines jeden einzelnen Kindes im Klassenverband berücksichtigen und zu eigener Forschung ermutigen.
Nehmen wir dazu einen Text, den die Kinder schon kennen und erlernt haben. Als Beispiel soll hier ein Gedicht von Hedwig Diestel dienen (wunderschön auch vertont von Wolfgang Wünsch in „Was ist dies - was ist das?", Selbstverlag Witten):
Wir sind eine Räuberbande
zieh'n im Dunkeln durch die Lande,
haben schon viel Gold gestohlen -
wo ist hier ein Schatz zu holen?
Hei! Wir werden ihn entdecken,
schnell in unsern Beutel stecken,
leise, leise heimwärts schleichen,
unsre Höhle bald erreichen!
„Nu lies mal!" - diese Aufforderung kann so manchen kleinen Kerl erschrecken, zumal, wenn er die ganzen Zeilen hintereinander wegstottern soll. Ganz anders sieht das aus, wenn ich die Aufgaben ganzheitlich stelle. So kann ich folgende Fragen entwickeln:
- Wie viele Wörter sind in der 3. Zeile? (oder in der 5. Zeile oder in der 2. Strophe?)
- Wie viele Wörter in der 1. Strophe (in der 6. Zeile / im ganzen Gedicht usw.) beginnen mit einem großen Buchstaben?
- Wie viele Wörter enden in Zeile 5 mit „-en"?
- Kannst du mir ein Wort mit einem großen Buchstaben nennen?
- Wie viele Wörter mit einem großen Buchstaben kannst du schon lesen?
- Wie oft kommt das Wort „wir" in der 1. Strophe vor? An welcher Stelle?
- Wie oft findest du ein Wort in der 3. Zeile mit einem „O" darin?
- Kannst du schon ein Wort davon lesen?
- Kann schon jemand 3 Wörter hintereinander lesen?
- Wer liest das 3. Wort in der letzten Zeile?
- Findest du ein Wort mit 4 Buchstaben? Kannst du es lesen? Kommt es im Text noch einmal vor?
- Findest du ein Wort, bei dem nach dem „i" ein „e" kommt?
- Findest du ein Wort, bei dem nach dem „i" ein „h" kommt?
Hier ist immer für jeden etwas dabei - für den schwächsten ebenso wie für die fortgeschrittenen Schüler. Letzteren kann ich dann schon einmal die Aufgabe geben,
- eine ganze Zeile zu lesen oder
- die Wörter einer Zeile in der umgekehrten Reihenfolge oder
- auch die Wörter selbst rückwärts zu lesen: llensch statt schnell, dlab statt bald usw.
- oder eine ganze Strophe mit einer dieser Aufgaben oder
- jedes Wort am Zeilenanfang / Zeilenende oder
- jedes zweite Wort im Text oder
- jedes dritte Wort in jeder Zeile usw.
Steht der Text an der Tafel (wir hatten ihn auch in einem Lesebuch, das ich mit den Eltern selbst hergestellt hatte), dann kann ich mit dem Zeigestock daraus ganz neue (Un-)Sinn-Texte kreieren:
- Wir sind ein Schatz
- Wir sind viel Gold
- eine Räuberbande ist im Lande
- leise im Dunkeln schleichen wir in unsern Beutel
- Wir werden im Dunkeln schon viel Gold entdecken
- Wir werden unsern Schatz bald erreichen
Alle Wörter sind im Eingangsgedicht enthalten, und die Schüler sind immer sehr gespannt und lesen eifrig und erheitert als Klasse mit, um den neuen (Un-)Sinn zu erfahren.
Nun, in der dritten Klasse schreiben wir viel Text in der Epoche zur Schöpfungsgeschichte. Aufbauend auf diesen Übungen habe ich nun die Aufgabe gestellt, selbst einmal einen (!) Satz zu schreiben, und zwar nur mit Wörtern, die wir in den Texten geschrieben hatten. Eifrig wurde mit der Arbeit begonnen, und fast nirgends blieb es bei nur einem Satz... Was aber als „Nebeneffekt" dabei herauskam: Die vorgeschriebenen Wörter wurden mit fast fehlerfreier Rechtschreibung übernommen. Manch ein fröhlicher Unsinnssatz kam dabei heraus, aber auch schöne philosophische Gedanken.
Zugleich erforderte die Aufgabenstellung eine Klärung, was denn nun einen Satz ausmacht, und auch das wurde geschickt umgesetzt.
Die darauf folgende Epoche ist nun eine Satzlehre-Epoche geworden...
(Anmerkung: Ich schätze sehr die „rechtschreib-freien" Sätze der Kinder, die sie in ersten kleinen Briefen zu Papier bringen, und ich versuche diese doch sehr originelle und kreative Schreibweise, die oft mehr das Wesen eines Wortes erfühlt, zu würdigen. Darum unterscheide ich immer so:
„Liebe Kinder, ihr habt nun schon viel gelernt, ihr könnt sogar schon richtig gut schreiben. Nun werden wir noch lernen, wie die Erwachsenen schreiben, denn die haben sich ganz eigene Regeln erdacht, damit man die Texte noch besser und schneller lesen kann".
Allerdings habe ich bei den eigenen Sätzen aus der Schöpfungsgeschichte die Rechtschreibung durchaus eingefordert, da sie sich aus den Textvorlagen eben organisch ergeben hat. Wenn es die ersten eigenen Aufsätze geben wird, stelle ich diesen Gesichtspunkt - im Gegensatz zu abgeschriebenen Tafeltexten - wieder mehr in den Hintergrund).