Kain und Abel
Aus: „Werdegang der Menschheit“ von Günther Wachsmuth, Verlag am Goetheanum
Ganz anders waren die Richtlinien, welche vom innerasiatischen Evolutionszentrum der sich im Iranischen Hochland Antithese von lichten und finsteren Welten und Mächten heraus, wie es dann in der Lehre des Zarathustra von Qrmuzd und Ahriman seinen erhabensten Ausdruck fand.
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Es darf dabei nicht vergessen werden, dass solche Gestalten wie die des geschichtlichen Zarathustra den Namen von Eingeweihten trugen, welche diese Lehre schon in vorhergehenden Zeiten inauguriert hatten. Es sind dies hierarchische Namen für Mysterienführer, welche einen bestimmten Impuls vertraten und ihn auf ihre Nachfolger übertrugen, oder Reinkarnationen von Individualitäten, welche der Menschheit spezifische Gaben vermittelten. So geht auch die zarathustrische Lehre auf sehr frühe Anfänge zurück, wie sie schon im 6. und 5. vorchristlichen Jahrtausend im iranischen Hochland veranlagt und aus dem Evolutionszentrum Innerasiens inspiriert wurde. Die Meder und Perser der späteren Zeit sind Abkömmlinge jener einstigen, vorbereitenden Entwicklungsimpulse.
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Die zarathustrische Lehre, aus den Mysterien der Epoche zwischen etwa 6500 — 4500 v. Chr. im iranischen Hochland ihren Ausgangspunkt nehmend, brachte dem Menschen ein Weltbild, das ihm die Antithese von Licht und Finsternis in neuer Weise bewusst machte und ihn vor die Frage stellte, zwischen beiden Mächten im Erdenleben den Ausgleich zu finden.
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In jener Zeitphase, als der Frühlingspunkt in den Zwillingen, das Sternbild der Jungfrau mit der Ähre als Symbol der Fruchtbarkeit im Zenith stand, wurde dem Menschen ein Impuls gegeben, der durch die iranischen Mysterien erstmals seine systematische Einordnung in das soziale Leben erfuhr; die Ausbildung eines geregelten Ackerbaues.
Hierzu müssen wir die vorhergehende Entwicklung nochmals in Betracht ziehen. Die sich dann zu den Urstämmen der Meder und Perser entwickelnden arischen Menschengruppen waren aus dem Norden, wo nomadische Verhältnisse vorherrschten, in das iranische Hochland geführt worden. Gewiss hatte sich auch vorher schon anderwärts manche Veranlassung gegeben, zeitweise vorn nomadischen Herdenleben zu vorübergehender Ausnutzung des Bodens durch eigene Eingriffe überzugehen, aber die frühere Epoche der Völkerwanderungen hatte doch im wesentlichen im Zeichen des Hirten- und Jäger-Lebens gestanden. Erst jetzt erfolgte im iranischen Hochland jene Stauung, die eine neue Phase des Verhältnisses des Menschen zum Erdboden notwendig machte. Hierfür wurde aus dem innerasiatischen Evolutionszentrum diesen Völkern die Anleitung zum systematischen Ackerbau gegeben, ein Tun, durch das der Mensch nun selbst die Verwandlung der Erdoberfläche übernahm, die vorher ihr Gepräge nur aus kosmischen und terrestrischen Umweltkräften erhalten hatte.
Dieser Wendepunkt ist im biblischen Bericht, der in seinen Anfängen weit über die lokalen Verhältnisse hinausragende Entwicklungen schildert, durch die Legende von Kain und Abel dargestellt. Wenn es da heißt, dass Abel sein Opfer von den Erstlingen seiner Herde, Kain aber von den Früchten des Feldes darbrachte, so ist damit der Übergang vom nomadischen zum ackerbauenden Menschen in einem einprägsamen Bilde gekennzeichnet. Es ist eine Kains-Epoche, eine die Erdennatur ergreifende Wendung im Werden und Bewusstsein des Menschen, die jetzt ihren Anfang nimmt. Wie der biblische Bericht und auch die indische Mythe des Mahabharata die Überlieferung von Manu-Noah bewahrt, so spiegelt sich die erdgeschichtliche Wende des beginnenden Ackerbaues in dem Bilde von Abel und Kain. Es bedurfte zwar langer Zwischenstadien, bis diese neue Aufgabe des Menschen geregelte Gestaltung annahm, aber die Überlieferungen aus der iranischen Geschichte künden doch von dem bedeutsamen Schritt, als dann in den Zarathustra-Mysterien der Ackerbau zur Pflicht erhoben und durch systematische Anleitung ausgebildet wurde.
So steht die von Iran ausgehende Kultur in einem der indischen polar entgegengesetzten Zeichen. Wahrend die indische Strömung die Religion, die Geist-Offenheit der Vergangenheit als Mahnmal bewahrt, führt die iranische, die Zarathustra-Strömung, zum geregelten Ergreifen der Erdenwelt. […] Die iranische Kultur steht im Zeichen des Zwiespalts zwischen Oben und Unten, Himmel und Erde, Licht und Finsternis, und sie bringt dies sowohl in ihren Mysterien, als auch in ihrer Lebenshaltung zum Ausdruck.
Die westlich des Iran und im Mittelmeerraum sich entfaltenden Völkerbildungen und Kulturen führen dann immer stärker und tiefer in die Ergreifung der Erdenwelt durch den Menschen hinein.