Das Kastenwesen

Aus: „Von der Atlantis bis Rom“, Karl Heyer, Verlag Freies Geistesleben.

Aus der atlantischen Vorgeschichte der nachatlantischen Menschheit ist der Ursprung einer Einrichtung verständlich, die den heutigen Menschen fremd berührt, die uns aber doch durch Jahrtausende hindurch im sozialen Leben gewisser Völker entgegentritt und die auch im dritten nachatlantischen Zeitalter noch eine große Rolle spielte: wir meinen die Kasteneinteilung, die besonders eindrucksvoll in Indien auftritt, wo sie sich, wie bekannt, in entarteter Form bis in unsere Gegenwart erhalten hat.

Rudolf Steiner sprach aus, dass die Priesterherrschaft, der von dem Manu im Beginne [...] der nachatlantischen Zeit die ganze Lenkung der Menschheit anvertraut war, die Kasteneinteilung handhabte; wie sie das konnte, «da die Priester ganz unpersönlich, kamafrei, verfuhren». Kama ist die Begierde. Das alte Priestertum und seine Macht beruhte darauf, dass es frei davon, d. h. nicht aus der menschlich-persönlichen Begierdennatur, sondern aus einer durch die Initiation errungenen überpersönlichen Weisheit heraus das soziale Leben ordnete und gestaltete. So tritt uns hier mit diesem Begriff der «Kamalosigkeit» ein für das Verständnis des sozialen Lebens der alten Zeit allerwichtigster Begriff entgegen.

Was aber lag nun jener indischen Kasteneinteilung zugrunde? Fassen wir in relativer Kürze die Darstellungen Rudolf Steiners zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:

Die Völker, die von der Atlantis auszogen und gen Osten wanderten, waren eigentlich in sieben Kasten gegliedert. Von diesen zogen die vier höchsten, die auserlesensten, nach Indien: es waren die bekannten Kasten: 1. die Brahminen (Priester), 2. die Krieger (oder auch Beamten in heutiger Ausdrucksweise), 3. die Handel- und Gewerbetreibenden, 4. die eigentlich arbeitende Kaste. Erst unterhalb dieser Kasten schließen sich in Indien die als unrein geltenden Parias an. (Ähnlich hören wir noch für viel spätere Zeit z. B. für Persien von vier Ständen, die hier aber nicht den strengen, kastenartigen Charakter hatten: Priester, Krieger, Ackerbauer, Gewerbetreibende.)

[…]

So hängt die Kasteneinteilung mit dem zusammen, was Rudolf Steiner das Gesetz der Differenzierung nennt. Es besteht darin, dass nicht alle Menschen gleichmäßig fortschreiten können, nicht alle gleich die Weisheit der Brahminen erringen können, sondern es müssen gewisse Gruppen abgesondert werden, um unter besonders günstigen Bedingungen sich zu entwickeln. Erst später können dann die anderen, die zunächst zurückgeblieben sind, auf die gleiche Entwicklungsstufe emporgehoben werden. So hat die Kasteneinteilung zu tun mit dem Reifegrad, mit den Befähigungen der verschiedenen Seelen. Ursprünglich wurden sie den verschiedenen Kasten durch die Autorität eingeweihter Führer zugeteilt. Niemand hätte gewagt oder auch nur daran gedacht, die Richtigkeit der Maßnahmen dieser Führer in Zweifel zu ziehen. Niemand empfand die Einteilung der Menschen in Kasten als Ungerechtigkeit. Im Hintergrunde stand die Einsicht in die großen Gesetze von Reinkarnation und Karma. Die Kasten waren so ein Ansporn zur Höherentwicklung. Der Mensch der niederen Kasten empfand es als seine Aufgabe, sich so zu verhalten, dass er in späteren Verkörperungen sich hinaufzuheben vermöchte. Innerhalb einer und derselben Verkörperung konnte er nur durch eine Einweihung über die Bestimmungen seiner Kaste hinauskommen. «Nur wenn man zu den Stufen kam, wo man abstreifte das, wohin einen das Karma hineingestellt hatte, nur wenn man in Yoga lebte, dann konnten unter Umständen diese Kastenunterschiede überwunden werden.»

[…]

Auch ein Ausblick auf eine ferne Zukunft ergibt sich von dem Kastenwesen des ersten nachatlantischen Zeitalters aus. In gewissem Sinne wiederholen sich die drei ersten nachatlantischen Zeitalter in den drei letzten; und zwar wiederholt sich das erste im siebenten, das zweite im sechsten, das dritte im fünften. Die Kasteneinteilung des ersten Zeitalters wird verwandelt im siebenten wieder auftreten, nun aber nicht durch äußere Autorität aufgezwungen, sondern freiwillig als eine Gliederung der Menschen nach sachlichen Gesichtspunkten. Die Menschen, sagt Rudolf Steiner, werden einsehen, dass in der Teilung in sachliche Gruppen das Heil der Menschen liegt.

«Kategorien, Klassen wird es geben, aber wenn auch heute der Klassenkampf noch so sehr wütet, in denjenigen Menschen, die nicht den Egoismus ausbilden, sondern das spirituelle Leben in sich aufnehmen, . . . wird es so kommen, dass sie sich freiwillig eingliedern in die Menschheit. Sie werden sich sagen: der eine muss dies, der andere jenes tun: Teilung der Arbeit, Teilung sogar bis in die feinsten Impulse hinein muss eintreten; und es wird sich so gestalten, dass derjenige, der Träger für das eine oder das andere ist, nicht nötig haben wird, seine Autorität den andern aufzuzwingen. Alle Autorität wird immer mehr freiwillig anerkannt werden, so dass wir im siebenten Zeitraum bei einem kleinen Teile der Menschheit wiederum eine Einteilung haben werden, welche das Kastenwesen wiederholt. … Die Menschheit wird sich nach moralischen und intellektuellen Differenzierungen gliedern, auf solcher Grundlage wird wiederum eine vergeistigte Kastenbildung eintreten. So wird, wie durch einen geheimnisvollen Kanal hinübergeleitet, sich in der siebenten Epoche wiederholen, was in der ersten sich prophetisch gezeigt hat.» (GA 105, 11. Vortrag)

Von der tiefen Andersartigkeit des sozialen Lebens im ersten nachatlantischen Zeitalter erhält man auch einen Begriff, wenn man hört, wie Rudolf Steiner ausführt (GA 176, 1. Vortrag), dass es damals etwas wie Recht oder Gesetz gar nicht gegeben habe. Anstelle dessen, was später so genannt wurde, gab es etwas anderes: die naturgegebene Weisheit der älteren Menschen, der Menschen nämlich, die die fünfziger Jahre erreicht hatten und die durch einen naturgegebenen, an die Leiblichkeit gebundenen (nicht durch individuelle Ich-Entwicklung errungenen) Reifeprozess hindurchgegangen waren. Diese naturgemäßen Weisen fragte man, wenn man Entscheidungen haben wollte für das, was zu tun oder zu lassen ist, was an Einrichtungen im öffentlichen oder auch privaten Leben zu treffen ist. Die Altgewordenen bezogen ihre Weisheit aus ihrer Verbindung mit derjenigen Geistigkeit, die sie als mit den Naturelementen verbunden erlebten, mit Wärme, Luft, Wind und Wasser, in ganz innigem Kontakt auch mit dem Stück Erde, das sie bewohnten, mit den klimatischen Verhältnissen. Aus dieser ihrer naturgegebenen und aus der Geistigkeit der Natur gewonnenen Weisheit waren die Alten «die selbstverständlichen Gesetzgeber».